Dieses Gespräch ist eine Vorveröffentlichung aus unserer kommenden Ausgabe »Zukunft mit Plan«, die am 6. Mai erscheinen wird. Es ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Interviews mit Jan Groos für den Podcast Future Histories (Folge S03E11 vom 28. April 2024).

 

Beim Ausmalen linker Utopien besteht breiter Konsens, dass sich die Dinge radikal ändern müssen. Für die Organisation von Familie und Sorgearbeit ist das nicht so klar. Warum müssen auch sie sich radikal ändern?

Ich bekomme in meinem Freundeskreis gerade mit, wie schwierig es wird, wenn die Eltern zu alt werden, um allein für sich zu sorgen. Es ist extrem schwer, ein Pflegeheim zu finden, das man ohne Bauchschmerzen empfehlen kann. Zwei Zimmer nebeneinander? Unmöglich. Das Ganze kostet ein Wahnsinnsgeld, das viele nicht aufbringen können. Kein Wunder, dass nur 16 Prozent der alten Menschen stationär gepflegt werden und in 84 Prozent der Familien jemand den Großteil des eigenen Lebens aufgibt, um eine*n Verwandte*n zu Hause zu pflegen. Meistens sind es Frauen, von denen viele gerade erst das Kindergroßziehen hinter sich haben. Das ist das Furchtbare daran, wie Care in kapitalistischen Gesellschaften organisiert ist: Dass die Sorge für andere immer Selbstaufopferung bedeutet und jede*r sich allein abstrampelt. Darum ist für mich klar: Nicht nur die Produktion muss vergesellschaftet werden, sondern auch die Art, wie Menschen für Menschen sorgen.

Wie diese Veränderungen aussehen könnten, versuchst du entlang der Bedürfnisse der Kinder zu erkunden. Was ergibt sich daraus?

Es geht bei sehr kleinen Kindern erst mal ums Satt- und Sauberwerden und ums Schlafen, um den Kontakt. Halten, Streicheln, Sprechen, Wickeln – das braucht jedes Baby. Aber in welcher Reihenfolge und Lautstärke, mit welcher Art von Körper­kontakt? Das ist total individuell, etwas Körperliches zwischen zwei Menschen, das in keine Gebrauchsanweisung passt. Kleinkinder lassen sich nicht einfach so abgeben. Sie brauchen ihre nahen Personen, um sich wohlzufühlen und halbwegs zu funktionieren. Um diese materielle Voraussetzung kommt man nicht herum, will man die Bedürfnisse der Kinder nicht vernachlässigen. Doch das wird oft völlig übersehen. Das ist ein Grund, warum die Kinderbetreuung auch bei linken Veranstaltungen meiner Erfahrung nach so gut wie nie funktioniert. Wenn wir nicht hingucken, was Kinder brauchen, hat das unmittelbare Auswirkungen vor allem auf die Mütter, die dann doch mit dem Baby auf dem Arm halb in der Tür stehen, um niemanden zu stören, und nur die Hälfte der Sache mitkriegen.

Warum werden diese materiellen Voraussetzungen in der Regel nicht ernst genommen?

Der erste Grund: Es ist einfach zu banal. In diese Niederungen möchte man sich nicht begeben, wenn man über die befreite Gesellschaft redet. Zweitens: Es ist kompliziert. Es gibt keine einfache Lösung für die Kinderbetreuung im Hier und Jetzt, und schon gar nicht für die Frage, wie das Aufwachsen von Kindern in einer befreiten Gesellschaft organisiert sein müsste. Wir müssen eine Form finden, in der die von mir beschriebene »Unkollektivierbarkeit der Kinder« trotzdem kollektiviert werden kann. 

 

»Wenn wir über die Planung einer befreiten Gesellschaft nachdenken, müssen wir die Sorge an den Anfang stellen.«

Eine Kinderbetreuung, die nicht privat ist und trotzdem Geborgenheit ermöglicht. Der dritte Punkt ist eine vollkommen unkritische Haltung zur Familie, die auch in der Linken immer noch vorherrscht. Klar, die bürgerliche Kleinfamilie gilt als spießig und autoritär. Gleichzeitig wird aber an der Überzeugung festgehalten, dass das räumliche Zusammenleben zweier emotio­nal eng verbundener Erwachsener die beste Lebensweise sei, um Kindern Sicherheit, Ruhe und individuelle Begleitung zu geben.

Du hältst die Familie für strukturell ungeeignet, diese Aufgaben zu erfüllen. Warum?

Die Familie verspricht Fürsorge, Geborgenheit und Zugehörigkeit. Das ist für Menschen so unentbehrlich, dass sie fast zwangsläufig die Augen davor verschließen, dass diese Institution ihren Mitgliedern diese Dinge nur spärlich und selektiv zukommen lässt und auf lange Sicht systematisch verweigert. Ich will nicht bestreiten, dass viele Eltern empathisch genug sind, um die filigranen Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und zu befriedigen. Sie tun das aber meist in einer Konstellation, in der die eine fast rund um die Uhr für das Baby zuständig ist und der andere mindestens neun Stunden außer Haus arbeitet, bevor dann nach ein paar Monaten beide zusammen 60 Stunden die Woche lohnarbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Das führt zu Stress und emotionalem Mangel. Im Treibhaus der auch räumlich isolierten Familienbeziehungen wird die Liebe häufig besitzergreifend und die Fürsorge grenzüberschreitend. Schuldgefühle verschärfen Stress und Wut bei allen Beteiligten. Der Mangel an Zeit, Schlaf, Geld und Platz kann zur seelischen Wunde werden, die wieder aufbricht, wenn die Kinder selbst Eltern werden und als Zweiergespann in einer kleinen, nach außen abgeschotteten Wohnung von Neuem den Spagat zwischen Lohnarbeit und Kinderversorgung versuchen.

Was du beschreibst, sind ja strukturelle Zwänge, die mit dem Leben im Kapitalismus zusammenhängen. Daraus folgt noch nicht zwingend, dass Familie in einer befreiten Gesellschaft komplett überflüssig wäre.  Wäre es nicht auch möglich, dass die Menschen sich zwischen kollektivierten Varianten und Familienvarianten entscheiden? Oder ist die Privatisierung des Kindergroßziehens grundsätzlich ein Problem?

Ja. Das Problem ist, dass es eine kulturell gewachsene Form ist, in die sich die kapitalistische Erfahrung des Mangels eingeschrieben hat. Die Form Vater-Mutter-Kind ist nicht neutral. Ich glaube nicht, dass sie in eine neue Gesellschaft hinübergerettet werden kann, um dort ihre Stärken zu entfalten.

Ich muss an die Kategorie Arbeit denken, an der viele sozialistische Modelle als Form der Subjektivierung festhalten. Bestimmte Zwangsstrukturen sind so stark mit dieser Idee verwoben, dass man sie eigentlich überwinden sollte. Die Frage ist, was an ihre Stelle rückt. Also wenn nicht die Kleinfamilie, was dann? Was wäre eine andere Form, die Sicherheit und Geborgenheit ermöglicht?

Es reicht nicht, das Ganze nur als Problem der Arbeitsverteilung zu verstehen. Bei der Sorge für Kinder gibt es keine Liste mit festen Aufgaben, die nur anders geplant, automatisiert, digitalisiert und anders unter den Geschlechtern aufgeteilt werden müssten. Es geht vielmehr darum, das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen unter der Maßgabe von Herrschaftsfreiheit und Bedürfnisorientierung neu zu erfinden. Wie genau, ist schwer zu sagen. Eine Idee wäre vielleicht eine soziale Form, die ich »Vierer-Elternschaft« nenne. Aus meiner eigenen Erfahrung des Mangels und der Anstrengung in der Versorgung eines kleinen Babys habe ich den Eindruck gewonnen, dass Kinder mehr als zwei Eltern brauchen.

Wie sieht das konkret aus?

Gehen wir mal versuchsweise von vier Personen aus: Die vier Erwachsenen sollten einander freundschaftlich zugetan sein und sich im Idealfall lange kennen. Der Fokus müsste auf Stabilität und Unkompliziertheit liegen, weshalb romantische Beziehungen eher die Ausnahme als die Regel wären. 
 Elternschaft wäre auch nicht mehr an die eigene Gebär- und Zeugungsfähigkeit geknüpft. Alle könnten in einer Zeitspanne, sagen wir mal willkürlich von 17 bis 67 Jahren, eine Elternrolle übernehmen. Weil die Verantwortung auf mehr Schultern verteilt wäre, gäbe es echte Vereinbarkeit: Man müsste nicht mit allem fertig sein, bevor man Kinder hat. 
 Man könnte seinen beruflichen Weg suchen, sein Liebesleben bunt halten, reisen. Wenn der notorische Mangel an Zeit, Kraft, Geld, Nerven, Liebe und Ruhe aus dem Kindergroßziehen verschwunden wäre, würden sich kindliche und erwachsene Bedürfnisse seltener gegenseitig ausschließen. All das wäre aus meiner Sicht nur in einer bedürfnis­orientierten Gesellschaft möglich, nicht unter den Bedingungen von Lohnarbeit und Kapitalismus.

Du bringst die Frage der Sorgearbeit mit der der Arbeitszeitrechnung zusammen, die in der Planungsdebatte viel diskutiert wird. Warum?

Wenn man sagt, dass Sorgearbeit Arbeit ist, die zählt, dann ist das hoffentlich nicht nur im Sinne einer ideellen »Anerkennung« gemeint, sondern ganz materiell: Das sind Ressourcen, die gesamtgesellschaftlich aufgebracht und eingeplant werden müssen. Und dazu muss man fragen, um wie viel Arbeit es hier geht.

Wie sieht eine solche Berechnung aus?

In seinem ersten Lebensjahr braucht ein Kind 24 Stunden und sieben Tage die Woche eine nahe Bezugsperson in unmittelbarer Nähe. Sehr häufig, etwa zwölf Stunden am Tag, ist das Baby auf direkten Körperkontakt angewiesen. In dieser Zeit kann eine sorgende Person eigentlich nichts anderes machen. In weiteren vier Stunden schläft das Baby, wenn auch mit Unterbrechungen, so fest, dass nebenbei etwas Hausarbeit oder andere leichte und störungstolerante Arbeit möglich ist. Das Baby schläft weitere acht Stunden, in denen die Bezugsperson ausruhen oder schlafen kann, aber in Bereitschaft sein muss. Diese Stunden zähle ich als halbe Stunden. So bin ich darauf gekommen, dass die Sorge für ein Neugeborenes 20 Arbeitsstunden am Tag erfordert. Vier Elternteile könnten sich also im ersten Lebensjahr ihres Kindes pro Tag je fünf Arbeitsstunden aufschreiben. Das sind in der Woche 35 Stunden. Dann kann man weiter ausrechnen, wie viel Zeit für außerhäusliche berufliche Arbeit und andere Dinge bleibt.

Wie müsste sich die Debatte um demokratische Planung verändern, wenn man sie aus dieser Perspektive denkt?

Vor allen Dingen würde sich die Gesamtarbeitszeit, die man in einer solchen Gesellschaft als notwendig erachtet, verlängern. Die Hoffnung, dass alle viel weniger arbeiten müssen, wäre dahin, wenn man die Sorge­arbeit mitzählt. Die reale Arbeitszeit von Männern würde sich im Vergleich zu heute wahrscheinlich sogar verlängern. Es geht aber nicht nur darum, die Arbeit besser zu verteilen und anzuerkennen. Es geht um die Einsicht, dass wir Sorge wirklich neu erfinden müssen. Man kann das Problem nicht ein­fach vom kapitalistischen Dreck befreien und den Rest behalten. In der Debatte herrscht zudem die Vorstellung, dass man Bedürfnisse einfach abfragen und ermitteln kann. Es  geht aber um mehr: um die Prioritäten der Gesellschaft als ganzer. Wie der Prozess des  kollektiven Nachdenkens darüber aussehen könnte, muss Teil der Planungsdebatte sein. Wenn wir über die Planung einer befreiten Gesellschaft nachdenken, müssen wir die Sorge an den Anfang stellen.


Das Gespräch führte Jan Groos.

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