Viele Menschen in Ostdeutschland sind müde von der Politik und fragen sich, wozu Parteien überhaupt noch gut sind. Gegenüber der LINKEN machen sie da oft keinen Unterschied. Was antwortet ihr?

Lena: Ich kann das teils nachvollziehen. Viele machen die Erfahrung, dass die regierenden Parteien über ihre alltäglichen Sorgen einfach hinweggehen. Und zwar seit sehr vielen Jahren. Diese verständliche Frustration richtet sich inzwischen nicht mehr gegen einzelne konkrete Maßnahmen, sondern gegen »die Politik« insgesamt. Zu dieser Politik zählen leider viele auch die LINKE. Und tatsächlich ist die Frage nach unserem realen Gebrauchswert berechtigt. Für mich ist entscheidend, dass wir der kollektiven Ohnmachtserfahrung entgegentreten und Orte praktischer Solidarität schaffen. Das ist für mich die wesentliche Aufgabe einer linken Partei. Zum Teil gelingt uns das bereits, aber wir können hier sicherlich noch besser werden. 
Sören: Wenn mir Leute sagen, dass das alles keinen Sinn hat mit der Politik, diskutiere ich anhand von konkreten Beispielen, wo wir etwas verändern konnten.

Welche zum Beispiel? 

Sören: In der Kommunalpolitik wird der Gebrauchswert der LINKEN gut deutlich. In Leipzig haben wir etwa erreicht, dass eine geplante Erhöhung der Beförderungstarife im öffentlichen Nahverkehr ausgesetzt wurde. Außerdem haben wir Milieuschutzsatzungen auf den Weg gebracht, um Verdrängung aus bestimmten Stadtquartieren zu verhindern.
Lena: In Jena haben wir ein Vergabegesetz beschlossen, wonach öffentliche Gelder nur noch nach sozialen und ökologischen Kriterien vergeben werden dürfen. In Thüringen müssen Eltern für das letzte und vorletzte Kita-Jahr vor der Einschulung keine Beiträge mehr zahlen – wie übrigens in Berlin und Brandenburg auch, wo die LINKE das mit durchgesetzt hat. Das betone ich, um zu zeigen, dass wir einen Unterschied machen können. Schwierig finde ich es jedoch, wenn wir suggerieren, die LINKE könne die Probleme für die Leute lösen. Diese Illusion sollten wir nicht nähren. Bernie Sanders sagt: »Not me. Us.«. Also nicht ich kann das Ruder herumreißen, sondern das können wir nur gemeinsam. So sollten auch wir unsere Politik begreifen.

Das klingt nach kämpferischer Oppositionspartei. Gerade im Osten gelingt es aber vor allem der AfD, den Frust mit »der Politik« nach rechts zu kanalisieren. Muss die LINKE die Unzufriedenheit besser aufgreifen und ein anderes politisches Angebot machen?

Sören: Um diese Leute müssen wir kämpfen! In den 1990er-Jahren und auch Anfang der 2000er-Jahre zu Zeiten der Hartz-IV-Proteste waren wir auch deshalb stark im Osten, weil man uns als laute Stimme gegen die dramatische Entsicherung wahrgenommen hatte. Den Rang als »Protestpartei« hat uns die AfD inzwischen streitig gemacht, ohne aber tatsächlich soziale Politik zu machen. Dagegen solidarische Antworten zu präsentieren, gelingt uns nur, wenn wir nah an den Alltagsproblemen der Leute sind. Ich kann allen LINKE-Politiker*innen nur raten, ihr berufspolitisches Engagement mit ehrenamtlicher Kommunalpolitik zu verbinden – die in vielen Fragen auch ein Machthebel sein kann.

In einigen Ländern ist die LINKE ja in Regierungsverantwortung und vermittelt teils einen recht staatstragenden Eindruck, teils muss sie auch viele Projekte mittragen, die nicht primär links sind. Wie sind deine Erfahrungen aus Thüringen, Lena?

Lena: Das ist ein objektives Dilemma. Wir wollen die Partei sein, die den Zusammenhang der vielen Alltagsprobleme und Krisen sieht und die »Systemfrage« stellt. Gleichzeitig erwarten die Leute von uns zu Recht, Politik zu gestalten und praktisch einen Unterschied zu machen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns im Parlament nicht einigeln, sondern mit den Menschen in engem Kontakt bleiben, versuchen, ihre Wut aufzugreifen und progressive Kämpfe zu stärken. Nur so können wir uns überhaupt die Handlungsspielräume verschaffen, die wir dringend brauchen. Man sieht in Thüringen ganz deutlich, was wir in der ersten Legislatur erreichen konnten und wie schwierig es seit 2019 ist, seit wir die Regierung nur noch mit einer Minderheitskoalition anführen. Im Erfurter Landtag zeigt sich aber auch, was passiert, wenn wir uns nicht an der Regierung beteiligen: CDU und FDP haben keine klare Distanz zur AfD. Wir haben hier also auch eine zentrale antifaschistische Funktion.

Die Krise der LINKEN scheint im Osten besonders groß. Was ist hier das größte Problem? Und was schlagt ihr vor?

Sören: Ich bin Anfang der 1990er-Jahre in die damalige PDS eingetreten und war mit 16 Jahren der mit Abstand Jüngste in meinem Ortsverband. Das hat sich in den vergangenen 30 Jahren leider kaum verändert. Speziell im Osten ist es uns nicht gelungen, jüngere Leute anzusprechen und Nachwuchs auszubilden. Je mehr eine mittlere Altersgruppe fehlt, desto schwerer wird es, aktive Parteiarbeit zu machen, und umso stärker treten dann auch Generationenkonflikte zutage. Zusätzlich haben wir ein Stadt-Land-Gefälle, zumindest in Sachsen sind wir im ländlichen Raum kaum mehr präsent. Ein dritter Punkt ist: Die Leute wollen eine Verbesserung ihrer Lebenssituation und keinen zerstrittenen Hühnerhaufen. Niemand hat Bock darauf, und das kann ich gut verstehen.

 

»Die PDS hat sich öfter was getraut und war anders als die anderen. Manchmal wünsche ich mir diese wilde Zeit zurück.« Sören Pellmann

Lena: Ja, das muss ein Ende haben. Es ist wichtig, richtig und normal, dass es innerparteilichen Streit und Debatten gibt, aber es muss klar sein, wofür die LINKE steht und wofür eben auch nicht. Nachdem Sahra Wagenknecht angekündigt hat, nicht mehr für die LINKE zu kandidieren, gibt es eine neue Chance, aus dieser Lähmung heraus­zukommen.

Inhaltliche Konflikte in der Partei gab es ja auch wegen der linken Proteste gegen die hohen Energiepreise. Sören, du hattest in Leipzig zu Montagsdemos aufgerufen. Was hast du dir davon versprochen?

Sören: Wir wollten an die Proteste gegen die Hartz-IV-Gesetze anknüpfen, als Anfang der 2000er-Jahre jeden Montag Zehntausende auf die Straßen gegangen sind. Gleichzeitig waren die Montagsproteste im Herbst 2022 in Sachsen sowie in Teilen von Thüringen und Sachsen-Anhalt aber von rechts besetzt. Mir war es wichtig, hier ein Stoppzeichen zu setzen. Wir können nicht zulassen, dass Rechtsaußen das historische Erbe von 1989 für sich vereinnahmt, es brauchte ein linkes Gegengewicht. Ja, es gab Kritik, aber im Rückblick ist das Ergebnis doch sehr gut: Es ist uns gelungen, relativ kurzfristig eine große Veranstaltung mit etwa 5.000 Teilnehmer*innen auf die Beine zu stellen. Unser Aufruf hat sich klar nach rechts abgegrenzt, wir konnten das Bild etwas geraderücken und linke Inhalte platzieren. Die Bilder waren wochenlang in den Medien, ich denke, es war richtig, diese Kundgebung zu machen.

Kritik kam auch aus dem bewegungsnahen antifaschistischen und antirassistischen Spektrum sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei. Braucht die Ost-LINKE diese Allianzen nicht dringend? 

Sören: Ja, unbedingt! Wir hatten für die Demo verschiedene antirassistische und antifaschistische Gruppen mit ins Boot geholt. Einige kamen aus dem ländlichen Raum Sachsens, wo sie die Gewalt der Faschos täglich erleben. Ihnen war es wichtig, mit der Durchführung der Demo am Montag ein friedliches Zeichen zu setzen.

Lena, wie lief das in Thüringen?

Lena: Ich verstehe, dass um das historische Erbe von 1989 gerungen werden muss. Gleichzeitig waren der Begriff »Heißer Herbst« und »Montagsdemos« damals eben stark mit den Rechten verknüpft. Ich habe in meinem Wahlkreis in Apolda in Absprache mit dem DGB deshalb die Kundgebung an einem Sonntag angemeldet, wo es für Menschen, die berufstätig sind, ohnehin einfacher ist, zu demonstrieren. Da an dem Wochenende in Apolda die Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative, ihren Bundeskongress abhielt, konnten wir beide Themen verbinden und uns klar nach rechts abgrenzen. Wenn wir wollen, dass viele Menschen unterschiedlicher Herkunft mit uns demonstrieren, braucht es die Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, eine eindeutige inhaltliche Abgrenzung nach rechts schon im Aufruf und aktive Mobilisierungsarbeit für die Demo.

Du hast Linke mit unterschiedlicher Herkunft erwähnt. Das betrifft ja nicht nur migrantische Linke, sondern etwa auch studentische Milieus einerseits und Arbeiter*innen andererseits. Die Ost-LINKE steht vor der Herausforderung, dass sie verschiedene Wähler*innengruppen hat, die sich im Alltag doch manchmal fremd bleiben. Wie kann eine verbindende Praxis geschaffen werden?

Lena: Wir dürfen die verschiedenen Milieus nicht gegeneinander diskutieren. Im Gegenteil: Unsere Aufgabe ist es, Verbindungen zwischen den Problemen und Kämpfen der Menschen sichtbar zu machen. Das sage ich als jemand, die in Jena – einer Boomstadt mit hohem akademischen Bevölkerungsanteil – Politik macht, ihren Wahlkreis aber im Weimarer Land hat, wo viele Menschen abwandern, wir es mit Überalterung zu tun haben und häufig prekäre Arbeitsbedingungen herrschen. In Jena haben wir beispielsweise am Universitätsklinikum einen Entlastungstarifvertrag erkämpft – der Kampf für bessere Pflege ist dabei auch ein feministischer Kampf und ein Kampf für gute Daseinsvorsorge –, das geht fast alle Menschen an.

»Wir sollten nicht suggerieren, die Partei könne die Probleme für die Leute lösen.« Lena Saniye Güngör

Oder, wenn wir mit den überwiegend migrantischen Beschäftigten in der Fleisch- und Lebensmittelindustrie für gleiche Rechte kämpfen, dann geht es auch darum, Dumpinglöhne zurückzudrängen und Arbeitsrechte durchzusetzen. Gewerkschaften sind wichtige Bündnispartner in diesen Kämpfen, deren Bedeutung über den Betrieb hinausgeht.

Sören, was bedeutet es für dich, verbindende Politik zu machen?

Sören: In meinem Wahlkreis gibt es fast dörflich geprägte Regionen, studentische Milieus, Gebiete mit einem sehr hohen Migrant*innenanteil und Grünau, ein Neubaugebiet mit vorwiegend DDR-sozialisierten Menschen – sehr unterschiedlich. Es gibt aber Themen, die alle gleichermaßen interessieren. Ein bezahlbarer öffentlicher Personennahverkehr etwa sowie bezahlbare Mieten. Entlang konkreter Themen müssen wir versuchen, diese Gemeinsamkeiten erfahrbar zu machen und Räume für Begegnung zu schaffen.

Früher war das Plattenbauviertel Grünau eine linke Bastion, mittlerweile gewinnt die AfD hier viele Stimmen. Was wünschen sich die Menschen dort von der LINKEN?

Sören: Lange waren in Leipzig andere Stadtteile wichtiger, Grünau wurde stark vernachlässigt. Auf unser Drängen hin gibt es inzwischen aber eine gute Infrastruktur, viele öffentliche Einrichtungen wurden saniert. Ein aktuelles Thema ist das Wohngeld. Hier bieten wir nun konkret praktische Hilfe an und erklären, was bei dem neuen Wohngeldgesetz zu beachten ist. Darüber erreichen wir sehr viele Menschen, die zur Beratung in unser Büro und so mit uns in Kontakt kommen.

Große Vorhaben lassen sich nur mit einer starken Basis umsetzen. Was bedeutet für euch aktivierende Mitgliederpolitik im Osten?

Lena: Es reicht nicht, ein halbes Jahr vor der Wahl zu fragen, wer zum Flyer-Verteilen mitkommt. Unsere Parteikultur muss dafür sorgen, dass alle Mitglieder Verantwortung übernehmen können, sich wohlfühlen und in ihrer Expertise anerkannt werden. Das heißt auch, Räume ohne Rassismus und Sexismus zu schaffen. Ich freue mich persönlich sehr, dass wir jetzt die migrantische Selbstvernetzung in den ostdeutschen Landesverbänden gestartet haben, in denen sich bisher nur vergleichsweise wenige Migrant*innen einbringen.
Sören: Wir haben in Leipzig seit zehn Jahren erstmals eine negative Mitgliederentwicklung. In meinem Ortsverband sind zuletzt 20 Leute ausgetreten – ich habe alle von ihnen angerufen. Drei haben die Entscheidung wieder rückgängig gemacht, fünf weitere überlegen es, aber sie brauchen eine Auszeit.

Haben sie gesagt, warum?

Sören: Wir wissen doch alle, was die – auch medial getriebene – Haupttrennlinie in der Partei ist: »Wie hältst du es mit Sahra Wagenknecht?« Rund um die Kundgebung »Aufstand für den Frieden« am 25. Februar in Berlin hat sich das noch einmal zugespitzt. Darum drehen sich entsprechend auch viele Begründungen für die Austritte. Zur von Lena geäußerten Hoffnung, mit einem Nichtantritt von Sahra Wagenknecht würden sich die Lähmungserscheinungen der Partei auflösen: Da bin ich sehr vorsichtig. Wir sollten lieber den Weg der größtmöglichen Versöhnung gehen, sonst kann es noch schwieriger werden. Und das will etwas heißen.

Wie kann die LINKE speziell ostdeutsche Ungerechtigkeitserfahrungen adressieren, ohne zu verkürzen? Worauf gilt es zu achten? 

Sören: Die LINKE ist gut beraten, das Thema weiter zu besetzen. Denn die Ungerechtigkeiten gegenüber Ostdeutschland halten ja an. Wenn man heute im Osten eine Ausbildung macht, wird man in der Regel für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt als in einem westdeutschen Bundesland. Auch die Vermögensumverteilung von unten nach oben ist zwar kein alleiniges Ostproblem, hier aber besonders spürbar. Erst vor Kurzem haben mich Schüler*innen einer Berufsschulklasse gefragt, warum wir nicht mehr dagegen machen.
Lena: Ich sitze in Thüringen im Treuhand-Untersuchungsausschuss. Die Aufarbeitung dieser Zeit halte ich für wichtig. Dass der Osten noch immer die verlängerte Werkbank Westdeutschlands ist, lässt sich auch zu den damaligen Entscheidungen zurückverfolgen. Gleichzeitig sind die Erzählungen der ostdeutschen Identitäten in den vergangenen Jahren sehr viel pluraler geworden. Die Geschichten der sogenannten Vertragsarbeiter*innen, die Gewalt der Baseballschlägerjahre – all das sind Osterfahrungen, die eine LINKE sichtbarer machen muss. Darin sehe ich eine Chance.

Wenn ihr eine Sache nennen müsstet, wo die größte Stärke für die Partei im Osten liegt, was wäre das?

Sören: Wir können Systemkritik und Ministerpräsident – wer kann das schon?

Was sind die wichtigsten Aufgaben für die LINKE in den nächsten Jahren?

Lena: Verspieltes Vertrauen wiederherstellen. Also authentisch dafür zu sorgen, dass wir 
linke Politik machen und dafür wahrgenommen werden. In Thüringen müssen wir bei den Landtagswahlen 2024 ein starkes Ergebnis erzielen – gerade mit Blick auf die berechtigten Ängste vor einer von Rechtsaußen geduldeten Regierung. Außerdem müssen wir den sozial-ökologischen Umbau der Industrie voranbringen und dabei gleichzeitig gute Arbeitsbedingungen im Blick behalten.
Sören: Gerade mit Blick auf den Osten ist es wichtig, dass wir an der Seite der Menschen stehen und in der Argumentation klar sind. Das unterscheidet uns von anderen konkurrierenden Parteien in Ostdeutschland. Ich denke auch an Protestaktionen aus den 1990er-Jahren zurück. Die PDS hatte sich damals öfter was getraut und sich anders als die anderen verhalten. Manchmal wünsche ich mir diese wilde Zeit für die LINKE zurück.


Das Gespräch führten Sebastian Bähr und Barbara Fried.

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