Wie würdest du die Zeiten beschreiben, in denen wir leben? Befinden wir uns in einer Krise, in multiplen Krisen, oder gar in einer Katastrophe?

Ich würde sagen, wir befinden uns in einer epochalen Krise, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist die Krise nicht auf einzelne Sektoren beschränkt, sondern betriff die gesamte gesellschaftliche Ordnung. Sie ist nicht ›nur‹ eine ökonomische oder ökologische, nicht ›nur‹ eine Krise der Politik oder des Care-Bereichs, sondern all diese Phänomene laufen zusammen und verschärfen sich gegenseitig. Umfassende Krisen wie diese sind historisch betrachtet eine Seltenheit. In den letzten 500 Jahren des Kapitalismus hat es vielleicht vier solcher Krisen gegeben, in denen immer mehr Menschen die Gesellschaftsform als Ganzes für nicht überlebensfähig hielten. Der zweite Grund ist der systemische Charakter dieser Krise. All das Irrationale und Dysfunktionale, das wir derzeit erleben, entsteht nicht zufällig, sondern ist tief in den Strukturen unserer kapitalistischen Gesellschaftsform verwurzelt – auch wenn wir es mit einer historisch spezifischen Form davon zu tun haben.


Du beschreibst den heutigen Kapitalismus als »kannibalistisch«. Was meinst du damit?

Die kapitalistische Wirtschaftsform nagt stetig an ihren eigenen Bedingungen; sie verschlingt alles, was ihr Dasein erst ermöglicht. Das heißt, kapitalistische Krisen sind nicht nur ökonomische, sondern auch soziale, politische und ökologische Krisen. Sie treten zudem nicht nur innerhalb einer bestimmten Sphäre auf, wie es etwa Marx mit dem tendenziellen Fall der Profitrate für den Bereich der Ökonomie beschrieben hat. Krisen entstehen auch aus Widersprüchen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, so wie das Karl Polanyi schon Mitte des 20. Jahrhunderts benannt hat. Für ihn erwachsen die Krisentendenzen aus dem andauernden Konflikt zwischen der ökonomischen Verwertungslogik dieses Systems und der Logik natürlicher und sozialer Reproduktion. Diese Widersprüche gehen über das Ökonomische hinaus und treiben damit auch Krisenphänomene jenseits des Ökonomischen an. Wir müssen Marx und Polanyi in dieser Hinsicht also mit- und gegeneinander anreichern. Erst dann können wir verstehen, dass im Kapitalismus nicht nur die freien Lohnarbeiter*innen ausgebeutet werden, sondern dass er auch alle »nicht-ökonomischen« Ressourcen auszehrt, die diese Ausbeutung erst möglich machen: die Familien, in denen Arbeitskraft (re)produziert wird; den Staat, der Eigentumsrechte absichert und öffentliche Güter zur Verfügung stellt, und natürlich die Ökosysteme, die das Leben überhaupt erst ermöglichen.

»Der neoliberale Kapitalismus befreit die kannibalistischen Tendenzen des Systems von allen Begrenzungen.«

Diese Dynamik findet sich in jeder Form des Kapitalismus und macht weder vor der Natur noch vor der Care-Arbeit halt, auch nicht vor dem Wohlstand oder der Gesundheit der Arbeiter*innen – das gilt insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, für rassifizierte Bevölkerungsgruppen. Und auch die politische Sphäre untergräbt er, also gerade die öffentlichen Machtpotenziale, die wir dringend brauchen, um unsere Probleme zu lösen. Es ist also das kannibalistische Wesen des Kapitalismus, das die multiplen Krisen und Ungerechtigkeiten hervorbringt, und zwar sowohl entlang von Geschlecht, Race und Imperialismus als auch bezüglich des Klassengegensatzes im klassischen Sinne.

Warum ist der Kapitalismus seinen eigenen selbstzerstörerischen Dynamiken bisher nicht zum Opfer gefallen?

In der Geschichte des Kapitalismus sehen wir immer wieder eine Abfolge von tiefgreifenden Krisenphasen, in denen das System ins Wanken gerät, sowie von Phasen der Reform, die diese inneren Widersprüche abfedern sollen. Ein Beispiel ist der sogenannte sozialdemokratische oder New-Deal-Kapitalismus. Er war eine direkte Reaktion auf die Krise des liberalen bzw. kolonialen industriellen Kapitalismus, die sich in den Wirtschaftskrisen und Weltkriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts niederschlug. Diese Krise wurzelte in der Unersättlichkeit des Kapitals, das die Kapazitäten der sozialen Reproduktion einmal mehr zu verschlingen drohte. Die sozialdemokratische ›Lösung‹ bestand darin, das Kapital in seinem eigenen Interesse einzuhegen – durch Regulierungen, soziale Absicherung, nachfrageorientierte Wirtschaftpolitik. Dieser Ausgleich hat eine Weile funktioniert, war aber weder wirklich gerecht noch nachhaltig. Folglich ist es auch keine Überraschung, dass er sich in den 1970er und 1980er Jahren begann aufzulösen. Damals wurde der Weg frei für eine abermals neue Form von Kapitalismus: den neoliberalen oder auch globalisierten Kapitalismus der 1990er Jahre, in dem wir heute noch leben.

Was sind die besonderen Merkmale dieses derzeitigen Kapitalismus?

Diese neueste Form ist besonders brutal und ausbeuterisch. Der neoliberale Kapitalismus befreit die kannibalistischen Tendenzen des Systems von allen Begrenzungen und Regulierungen. Und so verschlingt es schonungslos, worauf es eigentlich seine Existenz gründet. Die Corona-Pandemie wirkte wie eine Röntgenaufnahme dieses Gesellschaftssystems. Sie hat offenbart, wie irrational unser System ist und wie alle Krisentendenzen zum absoluten Siedepunkt getrieben werden. Man kann es nicht anders sagen: Wir befinden uns in einem einzigen schier unentwirrbaren Chaos.

Wie wirkt sich diese extreme Situation auf die Menschen aus, die sie durchleben?

Unter dem schrecklichen Druck dieser Krisen werden viele Menschen dem Common Sense abtrünnig, der noch alles einigermaßen zusammengehalten hat. Sie glauben nicht länger an das Narrativ, dass Bürokratieabbau und freie Märkte zum Happy End führen werden. Das zeigt sich auch in der zunehmenden Abkehr von den Eliten und etablierten Parteien, in der sich das niederschlägt, was Antonio Gramsci als »Krise der Hegemonie« bezeichnet hat. Die Menschen suchen nach neuen Lösungen. Das kann eine Chance bieten für emanzipatorische, linke Projekte. Aber es gibt auch eine Schattenseite: Viele fühlen sich von autoritären Anführern angezogen, von starken Männern, die eine bösartige Ausgrenzung von Minderheiten betreiben. Das können wir in unterschiedlichen Varianten weltweit beobachten, von der Alt-Right-Supremacy-Bewegung in den USA bis zur AfD in Deutschland.

Und inwiefern wird diese Chance, von der du sprichst, genutzt, um progressive Antworten zu finden?

Ich sehe durchaus einen Aufschwung an Protestbewegungen und Parteigründungen, ein enormes emanzipatorisches Potenzial. Trotzdem gibt es da ein noch ungelöstes Problem. Denn bisher bleibt der Aktivismus meist vereinzelt und fragmentiert; es gelingt nicht, eine Gegenhegemonie aufzubauen oder überhaupt gemeinsame Projekte zu schaffen. Das liegt daran, dass die Lebensbedingungen im Kapitalismus und besonders in seiner heutigen Spielart extrem komplex sind. Krisen werden darin sehr unterschiedlich erfahren. Wenn es so vieles gibt, gegen das es zu protestieren gilt, fokussieren politische Bewegungen meist auf einen Aspekt, den sie als besonders dringlich empfinden. Für einige ist das extreme Polizeigewalt, für andere prekäre Arbeit und Armut und für wieder andere die eskalierende Klimakrise. Alle diese Probleme sind real. Sie gemeinsam, durch kollektives demokratisches Handeln lösen zu wollen, kann zu breiterer Solidarität und umfassenderen, radikaleren Projekten führen. Damit das geschieht, müssen die Menschen jedoch die Zusammenhänge herstellen und verstehen, dass ihr jeweilges Leiden von ein und demselben gesellschaftlichen System verursacht wird – von dieser besonders kannibalistischen Ausformung des Kapitalismus.

Wie lässt sich das Verbindende der Kämpfe sichtbar machen? Durch welche Forderungen, welche Narrative könnten die Leute zusammenfinden?

Als Erstes ist es wichtig aufzuzeigen, wie die Phänomene miteinander verschränkt sind – und hier spreche ich jetzt als kritische Theoretikerin und als Aktivistin. Das gibt Bewegungen eine Art Landkarte, die die Zusammenhänge sichtbar macht und auf der sie sich verorten und potenzielle Verbündete finden können. Das meine ich nicht in dem leninistischen Sinne, dass sich die Anliegen unter eine vermeintlich wichtigere Forderung unterordnen müssen. Sondern im Gegenteil, Forderungen so zu (re)formulieren, dass Kooperation möglich wird und breitere Projekte entstehen können. Wenn das geschieht, könnten wir einige, vielleicht sogar viele Menschen auf unsere Seite ziehen, die derzeit zum Rechtspopulismus tendieren. Natürlich nicht die, die tief rassistisch und autoritaristisch geprägt sind, um die es nicht lohnt, zu kämpfen. Die Populist*innen stützen sich aber auf viele Leute, die bisher einfach keine Berührungspunkte mit adäquaten Alternativen von links haben und die rechts wählen, weil sie niemand mit einer klaren Klassenperspektive anspricht. Ihnen könnten wir etwas Besseres anbieten.

Kommt uns als Sozialist*innen also die Aufgabe zu, dieses bigger picture aufzuzeigen, das Bündnisse ermöglicht?

Genau! Ob wir von Trump-Anhänger*innen in den USA oder der AfD in Deutschland sprechen, diese Leute haben ein Narrativ. Und dieses Narrativ hat nicht den Anspruch, alle miteinzubeziehen, sondern ist im Gegenteil dezidiert exklusiv. Leider finden genau das viele Leute überzeugend. Wir brauchen einen starken Gegenentwurf hierzu, der die Menschen überzeugen kann. Der progressive Neoliberalismus mit seinen Angeboten ist nicht die Antwort – wir sehen sein Scheitern jeden Tag. Genau das eröffnet die Chance, neue Formen des Feminismus, des Antirassismus, der Umwelt- und Arbeitspolitik zu entwickeln. Formen, die auf tiefgreifende, strukturelle Veränderung abzielen.

Wie würde sie aussehen, diese Alternative von links?

Sie wäre eine Allianz feministischer, antirassistischer, prodemokratischer, Umwelt- und Arbeiter*innenbewegungen. So eine Koalition ist wirksam, wenn sich die Beteiligten in zwei Dingen einig sind: dass ihre verschiedenen Probleme demselben perversen Gesellschaftssystem entspringen. Und dass alle das Ziel teilen, diese Probleme angehen zu wollen. Sie müssen ihre Differenzen also nicht einem abstrakten Universalismus unterordnen. Im Gegenteil, sie können ihre jeweils eigene politische Identität behalten, aber gleichzeitig die Diagnose des Status quo teilen. Das Konzept der Intersektionalität versucht diese Praxis analytisch einzufangen, indem verschiedene, sich überschneidende Probleme auf eine gemeinsame Ursache zurückgeführt werden. Wenn es aber um Veränderung und Emanzipation geht, reicht Intersektionalität womöglich nicht aus. Wir brauchen stattdessen einen stärkeren Sinn für Solidarität – einen Sinn für das, was wir teilen können.

Erfordert das auch ein neues Verständnis des revolutionären Subjekts von heute – die Arbeiter*innenklasse?

Ja, wir müssen uns dringend abwenden von diesem traditionellen Verständnis, das sich allein auf die industrialisierte Arbeit freier Proletarier*innen bezieht. Diese Dimension der Arbeiter*innenklasse ist wichtig, ohne Zweifel, aber sie ist eben nur ein Aspekt von vielen. Der Kapitalismus stützt sich auch auf unfreie bzw. abhängige Arbeiter*innen, die er rassifiziert und als verletzbar konstruiert. Ihre Arbeit wird nicht einfach ausgebeutet, sondern sie wird enteignet. Auch sie sind also Teil der Arbeiter*innenklasse, ebenso wie die unter- oder gar unbezahlten Arbeiter*innen der geschlechtsspezifischen Care-Arbeit. Für die Akkumulation von Kapital sind diese beiden Dimensionen der Arbeit absolut unerlässlich. Ohne sie könnte es keine ausgebeuteten Arbeitskräfte geben, auch keine Rohmaterialien, keine Warenproduktion, keinen Mehrwert, kein Kapital. 

»Wenn es um Veränderung und Emanzipation geht, reicht Intersektionalität womöglich nicht aus.«

Der Kapitalismus basiert also nicht nur auf einer, sondern auf drei Dimensionen der Arbeit, die in einer Gesellschaftsordnung funktional miteinander verknüpft sind. Und ebendiese Dimensionen sind heute im Umbruch. Die meiste traditionelle Fertigungsarbeit ist inzwischen in Länder der Semiperipherie ausgelagert, wo das Arbeitsrecht schwach ist und Gewerkschaften nicht existieren. Ein Großteil der Arbeit sozialer Reproduktion findet in schlecht bezahlten Dienstleistungsverhältnissen statt, meist zugunsten profitorientierter Unternehmen, doch ausgeführt in öffentlichen Einrichtungen und von Migrant*innen, die jederzeit abgeschoben werden können. In beiden Fällen ist Arbeit also ›halbfrei‹, da es den Arbeiter*innen an ermächtigenden Rechten und politischem Schutz fehlt. Unsere Auffassung der Arbeiter*innenklasse muss alle diese Dimensionen von Arbeit im Kapitalismus und ihre Überschneidungen einbeziehen. Auf dieser Basis können wir Bündnisse bilden, die das nötige Gewicht und die visionäre Weite für einen emanzipatorischen, antihegemonialen Block haben.

Wie genau können Bewegungen dieses Konzept für sich nutzen? Und warum ist es heute entscheidend für ihren Erfolg?

Jede Bewegung, egal was ihr Anliegen ist, sollte sensibler für solch ein erweitertes Klassenverständnis sein. Wir brauchen einen »Feminismus der 99 Prozent« und keinen neoliberalen Feminismus, der lediglich darauf abzielt, »gläserne Decken« für einzelne Frauenkarrieren zu durchbrechen. Auch die Umweltpolitik sollte sich mit anderen emanzipatorischen Kämpfen verknüpfen, denn wer die Ökofrage monothematisch denkt, sitzt dem Irrglauben auf, sie sei vor allem ein Anliegen der Wohlhabenden. Auch antirassistische Bewegungen sollten über das Mantra von black faces in high places hinausgehen und klassenpolitische Ansätze in den Blick nehmen. Auch betriebliche Arbeitskämpfe müssen auf Grundlage dieses erweiterten Klassenverständnisses agieren und etwa Forderungen der #MeToo-Bewegung einbeziehen. Wenn wir es schaffen, Arbeitskämpfe mit Fragen der sozialen Reproduktion, der Ökologie und der Demokratie zu verknüpfen, können wir große Teile der Bevölkerung ansprechen. Eine Linke, die sich auf einen solchen starken und differenzierten Klassenbegriff stützt, ist eine echte Herausforderung für ihre politischen Gegner – sowohl für rechte Populist*innen als auch für marktorientierte Liberale.

»Eine andere Welt ist möglich« – dieser Slogan hat jahrzehntelang Bewegungen mobilisiert. Was bleibt davon, in einer Zeit der drohenden Klimaapokalypse?

Natürlich verlangt die ökologische Krise große Veränderungen in sehr kurzer Zeit. Einige entmutigt das oder sie werden passiv. Gleichzeitig sehe ich aber ein echtes Gefühl der Dringlichkeit und eine enorme Energie, die dieser Aufgabe gerecht werden will. Das Engagement und den Aufbruch einer neuen Generation von Aktivist*innen zu sehen, ermutigt mich ungemein. In manchen Punkten erinnert mich das an die späten Sechziger, als ich selbst eine radikale linke Aktivistin wurde. Und heute, als Professorin, begegnet mir ein ungeheures Interesse der Studierenden an Ökomarxismus und Sozialismus – Themen, die in den letzten Jahrzehnten nicht gerade beliebt waren.

Also siehst du Anlass zum Optimismus?

Ich sehe auf jeden Fall, dass es einen riesigen Wunsch gibt, sich mit anderen zu vernetzen. Wir sind über den Punkt hinaus, als junge Linksradikale vor allem ihre eigene, separate Stimme entwickeln wollten. Die Leute spüren die Dringlichkeit, sich zu verbinden statt sich voneinander abzutrennen. Dass Konzepte der Intersektionalität, des Ökosozialismus und eines Feminismus der sozialen Reproduktion solchen Aufschwung erleben, zeugt von dieser Sehnsucht nach Verbindung. Ich sehe ein unglaubliches Maß an Kreativität bei denen, die versuchen, neue Theorien und Modelle zu entwickeln, die diese Verbindungen herstellen. Es ist wirklich eine gute Zeit, um Intellektuelle*r zu sein.


Das Gespräch führte Nathalie Steinert. Aus dem Englischen von Maximiliane Kind.

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