In der Analyse einer politischen Situation betrachtete Antonio Gramsci stets das Verhältnis zwischen ihren »organischen« und ihren »konjunkturellen«, also gelegenheitsbedingten Aspekten. Das Organische bezieht sich auf die großen, längerfristigen Veränderungen der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Kräfteverhältnisse, von denen die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt wird. Das Konjunkturelle meint dagegen die kurzfristigen Dynamiken politischer und kultureller Kämpfe und die Art und Weise, wie sich (historische) Blöcke bilden, um Macht ringen und schließlich zerfallen.

Nur wenn wir diese beiden Aspekte verbinden, entgehen wir sowohl der Gefahr eines »Ökonomismus« wie eines »Ideologismus«. Ökonomismus verortet die Ursachen politischer Phänomene allein in den langfristigen kapitalistischen Bewegungsgesetzen, während Ideologismus Politik als eine von realen Bedingungen weitgehend unabhängige Instanz begreift. Die Herausforderung besteht darin, die organischen Dynamiken so zu denken, wie sie konkret konjunkturell auftreten: Nicht als endlose Widersprüche des Kapitalismus, sondern in den konkreten Formen, in denen sie erfahren und politisch wirksam werden. Uns interessiert dann nicht einfach die aufziehende Klimakrise an sich, sondern die konkrete Art und Weise, wie sie thematisiert, verdrängt und bearbeitet wird. Konjunkturell zu denken heißt also zu analysieren, wie die organischen Bewegungen dieser Gesellschaftsformation konkret Gestalt annehmen und welche konkreten Bedingungen das für politisches Handeln schafft. Es bedeutet, die Modi zu untersuchen, in denen gesellschaftliche Kräfte (also jener Komplex aus sozialen Gruppen und Klassen, die unsere aktuelle Gesellschaftsordnung ausmachen) zu politischen Kräften werden. Was veranlasst sie zu handeln? Oder, wahlweise: Wie werden sie als politische Akteure (de-)mobilisiert?

Wie uns eine solche an Gramsci angelehnte »Konjunkturanalyse« (vgl. ausführlicher Clarke 2023) helfen kann, die Komplexität einer historischen Situation einzufangen, lässt sich am Aufstieg und Zerfall des konservativen »Brexit-Blocks« in Großbritannien zeigen. Jenseits von Ökonomismus oder Ideologismus möchte ich darlegen, wie die organischen und konjunkturellen Aspekte zusammenwirkten und in spezifischer Weise politisch »kulturkämpferisch« artikuliert wurden.

»Taking back control« und Affekte des Verlusts

Die massiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte in Großbritannien waren die Voraussetzung für die Bildung neuer politischer Blöcke rund um die Brexit-Kampagne im Jahr 2016. Sie legten den Grundstein für eine konservative Hegemonie, die 2019 zum Erdrutschsieg Boris Johnsons bei den Parlamentswahlen führte. Heute, vier Jahre später, ist der Block zerfallen und die Hegemonie erschüttert. Das Vereinigte Königreich wird zunehmend als broken country beschrieben. Doch wie kam es überhaupt zu dieser spezifischen gesellschaftlichen Mobilisierung?

Der »Brexit-Block«, also die »Allianz« gesellschaftlicher Kräfte, die einen Brexit befürwortete und vorantrieb, bestand aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Er verband Kapitalfraktionen (vor allem das Finanzkapital), traditionalistische Segmente der Mittelschicht und Teile der Arbeiterklasse. Zusammengeschweißt wurden sie von spezifischen Formen der Sehnsucht und Unzufriedenheit. Diese Affekte hatten durchaus eine materielle Grundlage – die lange Deindustrialisierung, der noch längere Niedergang des British Empire und die Privatisierung vieler Bereiche des öffentlichen Lebens. Zugleich sind die Affekte des Verlusts die treibende Kraft und das »Bindemittel« gewesen, das diese diversen gesellschaftlichen Gruppen mit spezifischen politischen Projekten verband. Bei der Formierung des »Brexit-Blocks« war das Versprechen, mit dem EU-Austritt die Kontrolle zurückzugewinnen– »to take back control«–, zentral. Dieses Versprechen knüpfte an das tief sitzende Gefühl des Verlusts an und versprach, etwas Verlorenes wiederzuerlangen. Doch welcher Verlust war hier gemeint?

»Der ›Brexit-Block‹ verband Kapitalfraktionen, traditionalistische Segmente der Mittelschicht und Teile der Arbeiterklasse.«

Wie andere Affekte ist auch Verlust erstmal recht unspezifisch. Wie er sich genau artikuliert, hängt von den konkreten sozialen Auseinandersetzungen ab. Im endlos langen, noch immer unabgeschlossenen Prozess des Brexit sind diverse Verlustgefühle zum Tragen gekommen. Komplexe materielle und imaginäre Verlusterfahrungen wirken zusammen. Diese fanden unterschiedliche Ausdrucksformen: sowohl in der Entfremdung von konventioneller »Mainstream«-Politik wie auch in der nostalgischen Rückbesinnung auf eine »verlorengegangene Lebensweise« (vgl. Sobolewska/Ford 2020).

Das Bild der verlorenen Lebensweise hat mehrere Dimensionen: Verloren gegangen sei das Gefühl der »Souveränität«, das mit bezahlter Erwerbsarbeit verbunden wird, die »Sicherheit« durch etablierte Gemeinschaften und öffentliche Infrastrukturen und schließlich das Gefühl der Anerkennung als »verantwortungsvolle*r« Bürger*in. All diese Gefühle sind in soziale Ordnungssysteme eingebettet – in die etablierten Formen der Lohnarbeit und ihre geschlechtsspezifische Aufteilung, in die »normale« Struktur von Haushalt und Kernfamilie und die Bindung an Ort und Nation (mit ihrer zutiefst rassistischen Geschichte der »Zugehörigkeit«). All das scheint bedroht – von der »natürlichen« Familienordnung über die Wertschätzung »echter« Arbeit bis hin zu den rassifizierten Hierarchien des Empire. Paul Gilroy spricht in diesem Zusammenhang von »postkolonialer Melancholie« (vgl. Gilroy 2005).

Das Gefühl des Verlusts ist zu einem mächtigen Instrument der politischen Artikulation geworden. Es wird von politischen Projekten genutzt, die vorgeben, eine zunehmend bedrohte nationale »Lebensweise« zu verteidigen. Dies gilt für die Brexit-Bewegung in Großbritannien wie für andere autoritär-populistische Bewegungen – vom Trumpismus über Modis Hindu-Nationalismus bis hin zu Frankreichs Rassemblement National. Ihr Erfolg gründet auch in ihrer Fähigkeit, Verlustgefühle selektiv aufzugreifen und ihnen eine Stimme zu geben. Ihre Politik ist in dem Sinne selektiv, als dass sie bestimmte Formen des Verlusts (und eine bestimmte Art von Ursachen) fokussiert und andere ignoriert oder leugnet. Zudem pflegt sie eine bestimmte Praxis der Artikula­tion, in der sich Menschen als »das Volk« anerkannt und repräsentiert fühlen.

Der »Brexit-Block«: Abgehängte und Besitzstandswahrer

Eine Konjunkturanalyse, die untersucht, wie sich politische Blöcke und Bündnisse formieren und wie sie wieder zerfallen, hat einen wichtigen Vorteil: Sie schützt uns davor, dramatische Momente als »epochale« und eindeutige Wendepunkte zu missdeuten, wie etwa in der populären These eines Übergangs von einer »politischen Normalität« zu einer Ära des Populismus. Konjunkturanalyse lässt offen, ob Blöcke und Bündnisse stabilisiert und ausgeweitet werden können oder sie zugunsten neuer Konstellationen wieder zerfallen. Was ich als »Boris-Block« (2020) bezeichnet habe, basierte auf den Leave-Kampagnen für den EU-Austritt. Darin gelang es, die Affekte der Kränkung und Wut der (vermeintlich und real) »Abgehängten« oder »Vergessenen« zu artikulieren. Boris Johnsons Wahlkampagne setzte auf das Versprechen, die »Kontrolle zurückzuholen« (Take back control!) und griff zugleich den Unmut über die schleppenden Brexit-Verhandlungen auf (Get Brexit done!). Die von Johnson geführten Torys hielten am Anti­elitismus der Brexit-Kampagnen fest und beschworen Feindseligkeit sowohl gegenüber den urban-weltoffen-liberalen Eliten wie auch den EU-Institutionen – beiden wurde vorgeworfen, das »einfache britische Volk« zu erniedrigen. 

Der Block, den Johnson zusammenführte, artikulierte eine Reihe wirkmächtiger Imagi­nationen: die post-imperiale Nostalgie für ein Groß-Britannien, die oben beschriebenen Gefühle des Verlusts insbesondere von Macht, Privilegien und Heimat und schließlich der Wunsch nach Schutz von Wohlstand und Eigentum. Dieser Wunsch einte große und kleine Rentiers – von globalen Hedgefonds bis zu Menschen mit Besitz an Pensionsfonds und Immobilien. Dies erwies sich trotz aller Unterschiede als erstaunlich stabile Basis des Blocks. Davies beschreibt diese »neue konservative Koalition als eine Allianz von Rentiers«, eine Art Rentierismus. »Die Befürworter*innen eines ›harten Brexit‹ sind keine klassischen Rentiers. […] Und doch befinden sie sich an einem Punkt im Leben, wo sie ihre Hypotheken abbezahlt haben und von den Erträgen ihrer Pensionsfonds leben.« (2019) Wer diese Art Reichtum besitzt, hat ein übergeordnetes Interesse daran, es vor staatlichem Zugriff (Besteuerung) zu schützen, und will vor allem die Weitergabe des familiären Erbes absichern.

Im Rentierismus konzentrieren sich nicht nur materielle Interessen. Es geht auch um eine bestimmte politisch-kulturelle Repräsentation, die den Besitz und das Vererben von Reichtum normalisiert und verallgemeinert. Der Oligarch, die Hedgefondsmanagerin und der Hauseigentümer bilden eine fiktive Einheit, die sich eine Regierung wünscht, die den Reichtum schützt. Sie werden als Repräsentanten einer ganzen Nation imaginiert, die verunsichert und gekränkt ist und die Wiederherstellung der richtigen Ordnung verlangt – sowie den ihr darin zustehenden Platz.

Johnsons Absturz im Juli 2022 als Folge diverser Krisen und eines parteiinternen Vertrauensverlusts offenbart, dass die Allianz dieses Blocks mit der konservativen Partei durchaus zerbrechlich war. Johnsons Nachfolgerin Liz Truss zeigte neoliberalen Ehrgeiz auf der Jagd nach »Wachstum, Wachstum, Wachstum«, brachte die Wirtschaft jedoch binnen weniger Tage zum Kollaps, spaltete Partei und Wahlbündnis und schädigte den gesamten politischen Block. Hedgefonds und libertäre Denkfabriken blieben ihre einzigen Verbündeten. Mit der Ernennung Rishi Sunaks zum Nachfolger als Premierminister und Parteivorsitzender wurde die Regierungsgewalt schließlich in technokratische und finanzpolitisch »sichere Hände« übertragen.

Seit Anfang 2020 hat sich dieses konservative Projekt mit der Bewältigung verschiedenster Krisen äußerst schwergetan: Während sich die Brexit-Verhandlungen schmerzhaft lange hinzogen, offenbarte der Umgang mit der Covid-19-Pandemie ein erschreckendes Maß an Inkompetenz. Die öffentliche Infrastruktur bröckelt nach Jahren der Austerität in allen Bereichen vor sich hin: Die Gesundheitsversorgung war gefährdet, den Schulen gelang es kaum, sich von der Pandemie zu erholen, und Polizei und Justiz erwiesen sich als unterfinanziert und dysfunktional. Einem privatisierten Trinkwasser-Unternehmen wurde die groß angelegte Verschmutzung britischer Gewässer nachgewiesen. Die Regierung scheiterte daran, einen Rückstau an Asylanträgen zu bearbeiten und konnte auch ihr Versprechen, die Boote mit »illegalen Migrant*innen« an der Fahrt über den Ärmelkanal zu hindern, nicht umsetzen.

Angesichts einer anhaltenden Pannenserie stürzten die Umfragewerte der Regierung ins Bodenlose. Als Reaktion setzten sowohl Johnson als auch Truss und Sunak auf eine Stärkung der britischen Version des Antielitarismus. Dessen Zielscheibe sind insbesondere Liberale, sogenannte lefty lawyers (linke Anwälte, die etwa die Rechte von Migrant*innen vertreten), die öffentlich-rechtliche Sende­anstalt BBC und die Labour Party. Sie werden als »anti-britische« Verräter angegriffen – der Grundton einer größer angelegten Strategie des Kulturkampfs.

Unheimliche Verbindungen: die Politik des Kulturkampfs

Die Idee des culture war wurde aus den USA importiert und steht für einen neuen politischen Stil sowie ein neues politisches Kampffeld. Sie steht für einen Bruch mit dem, was sich als instrumentelle, berechnende oder materialistische politische Praxis beschreiben ließe. In Großbritannien haben die Konservativen in verschiedenen Themenfeldern Strategien des Kulturkampfs entwickelt. Anfangs konzentrierten sich ihre Attacken auf jene, die nach der Ermordung von George Floyd Großbritanniens koloniale Geschichte infrage stellten, auf die globalen Black-Lives-Matter-Proteste und die neuen antikolonialen Bewegungen. Diese anfänglichen Strategien mobilisierten eine für den Populismus charakteristische Mischung aus Nationalismus und Autoritarismus und etablierten eine ganz bestimmte Äquivalenzkette: Das Volk = die Konservative Partei = die Regierung = der Staat = die Nation. Durch die Verknüpfung dieser Identitäten werden alle, die außerhalb und im Widerspruch zu dieser Kette stehen, markiert und als volksfeindlich, unpatriotisch, verantwortungslos und ganz sicher nicht »wirklich britisch« angegriffen.

Mit dem Fortgang der politischen Krisen gab die konservative Regierung ihre alten Grundsätze von effektivem Wirtschaftsmanagement und effizienter Regierungsführung (so vage sie auch gewesen sein mögen) immer mehr auf. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Attacken gegen politisch-kulturelle Gegner. Ein zentrales Feindbild wurde die wokeness, die mit antirassistischer Politik, trans*-Bewegungen, Menschenrechtsaktivist*innen und Flüchtlingshelfer*innen assoziiert wird. Viele performative politische Taktiken der Regierung drehten sich darum, »unsere Grenzen« gegen »illegale Einwanderer« zu schützen. Zur jüngsten Front im Kulturkampf ist die Umweltpolitik geworden: Klimapolitische Maßnahmen und Ziele werden ausgesetzt, um die »einfachen Leute« vor den überzogenen Forderungen der Aktivist*innen zu schützen. Obwohl Politik und Kultur immer zusammenhängen, verändert der culture war dieses Verhältnis. Der »Kultur« – hier verstanden als Frage von Identität, Zugehörigkeit und Glauben – wird der Vorrang gegeben.

Diese Taktiken waren für die Herausbildung des »Brexit-« und »Boris-Blocks« zentral. Sie scheinen angesichts vielfältiger Krisen, von der Inflation bis zum Klima, jedoch vorerst ihre Wirkkraft eingebüßt zu haben. Aktuell ist eher unwahrscheinlich, dass sie die politische Krise der Konservativen und ihren Einbruch bei den nächsten Wahlen ernsthaft aufhalten können.

Die Arbeit der politischen Übersetzung

Dennoch stellt ein solcher Kulturkampf eine große politische Herausforderung für die gesellschaftliche Linke dar, die noch immer unterschätzt wird. Viele Linke bezweifeln nach wie vor die Relevanz von Kulturkämpfen, was auch mit kontroversen Einschätzungen dessen zusammenhängt, was »Kultur« ist. In der Weigerung, den Kulturkampf ernst zu nehmen, treffen sich unterschiedliche linke Orientierungen: Vom marxistischen Skeptizismus gegenüber dem »Überbau-Gedöns« bis zur Hoffnung der Labour Party, das zerbrochene Bündnis mit der »traditionellen« (d. h. weißen) Wählerschaft in der Arbeiterklasse zu reparieren. Wie Judith Butler (1998) angemerkt hat, gibt es eine unerfreuliche Tendenz der Linken, zwischen materieller Politik und dem »Nur-Kulturellen« zu unterscheiden, nicht zuletzt in der Abwertung von sozialen Bewegungen als »identitätspolitisch« statt »realpolitisch«.

Stattdessen brauchen wir ein Verständnis davon, wie Kultur, Politik und Macht zusammenhängen. Dies bedarf der Einsicht, dass »Kultur« nicht von anderen Dimensionen der Macht zu trennen ist. Die Macht der Konzerne ist nicht zu trennen von der kulturellen Abwehr umweltpolitischer Forderungen, die legislative Macht nicht von der Ausweitung sozialer Repression, institutionelle Macht nicht vom Schrumpfen demokratischer Räume für Debatte und Widerspruch. Kultur durchzieht und verbindet all diese Arenen gesellschaftlicher Kämpfe. Das zeigt, wie unmöglich es ist, die Kritik des Kulturkampfs von einer Kritik anderer sozialer Widersprüche zu unterscheiden.

»Für Gramsci setzt Übersetzungsarbeit an den Anknüpfungspunkten eines ›guten Kerns‹ an, der immer im ›Alltagsverstand‹ enthalten ist.«

Hier liegt die zentrale Herausforderung für politische Analyse und Mobilisierung. Denn es ist zu kurz gedacht, den culture war vornehmlich als Ablenkungsstrategie zu begreifen. In Großbritannien hat der Kulturkampf eine wesentliche Rolle für die Bildung, Aufrechterhaltung und Neuformierung des konservativen Blocks gespielt. Umso mehr ginge es darum, eine »intellektuelle und moralische Reform« (Gramsci) zu entwickeln, um eine linke Gegenhegemonie von unten aufzubauen. Dieser Anspruch enthält eine Vorstellung von Politik als Übersetzungsarbeit, die immer auch kulturelle Dimensionen hat (Kipfer/Hart 2015). Für Gramsci setzt die Arbeit des Übersetzens und Artikulierens an den potenziellen Anknüpfungspunkten eines »guten Kerns« an, der immer im »Alltagsverstand« enthalten ist. Die politische Arbeit besteht darin, diese Punkte aufzugreifen, miteinander zu verbinden und zu einem wirkmächtigen politischen Projekt auszubauen. Dies erfordert eine dialogische Sicht auf die politische Praxis statt eines rein monologischen Verständnisses von Führung. Crehan verweist darauf, dass Gramscis Interesse an subalternen Kulturen unmittelbar mit der Entwicklung einer gegenhegemonialen Politik verbunden ist: »Eine effektive, progressive politische Bewegung muss stets eine Sprache verwenden und eine Botschaft vermitteln, die von der großen Mehrheit derer anerkannt werden, die sie erreichen sollen. Dies ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass Gramsci die Kartierung des subalternen Verständnisses der Welt als so wichtig ansah.« (Crehan 2016, 186)

Diese Aufmerksamkeit für die Sprache, Denkweisen und Fragmente des »guten Kerns« im Alltagsverstand ist die Basis von Gramscis Bemühungen um ein gegenhegemoniales »national-populares« Projekt. Wenn wir Übersetzung und Artikulation in diesem Sinne als grundlegende politisch-kulturelle Praktiken ernst nehmen, merken wir schnell, wie schwer es ist, sich neue Kollektivitäten vorzustellen, neue Formen der politischen Zugehörigkeit, die uns ansprechen und mobilisieren könnten. Stuart Hall, für den die Frage der Artikulation zentral ist, sieht darin die größte Herausforderung für eine Umarbeitung von identitätsbasierten Politiken: »Identität steht am Ende, nicht am Anfang des Paradigmas. Identität ist das, worum es bei politischer Organisation geht. Es ist mitnichten so, dass es Subjekte gäbe und wir bloß nicht zu ihnen vordringen könnten. Vielmehr wissen sie noch nicht, dass sie die Subjekte eines möglichen Diskurses sind.« (Hall 2010, 291)

Wie also können neue Identitäten gebildet werden? Zweifellos indem wir als Linke die veränderten materiellen Bedingungen in den Blick nehmen – im Sinne der vielen angestauten Bedürfnisse und Unsicherheiten. Zugleich müssen wir aber auch die verbreiteten Wünsche der Menschen verstehen und adressieren. Die politische Arbeit des Übersetzens und Artikulierens steht und fällt damit, ob es gelingt, sich damit zu verbinden, wie Menschen sich fühlen – in Bezug auf ihre Lebensverhältnisse, ihre Vorstellungen eines besseren Lebens, ihre Erfahrungen und Verletzungen. Beim Übersetzen geht es entsprechend darum, diese Wünsche – in populärer Sprache – aufzugreifen und in ein Projekt einzubetten, in dem sie sich wiedererkennen können. Die Idee der Sicherheit – in einem ganz breiten Sinne – erscheint mir als möglicher Schwerpunkt eines solchen Projekts. Wie können wir uns sicher fühlen, über die gesamte Bandbreite unserer Erfahrungen hinweg? Wie unsere individuellen Verletzlichkeiten im globalen Maßstab denken? Wie kann das kollektive »Wir« im Zuge eines solchen Prozesses erweitert werden? Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden.


Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann

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