Die Sozialwissenschaftler*innen Daniel Mullis, Maximilian Pichl und Vanessa E. Thompson warnten jüngst vor »autoritären Kipppunkten« in Deutschland. Wo sie überschritten werden, würde »der Boden brüchig, auf dem plurale und demokratische Gesellschaften stehen« (Mullis u. a. 2023). Die Diagnose ist so nachvollziehbar wie die mit ihr verbundene Warnung. Halb Europa blickt auf die aktuellen Umfragewerte der AfD: Ein von Rechtsextremen regiertes Deutschland würde die politischen Realitäten nicht nur im Land, sondern auf dem Kontinent bedrohlich verändern.

Noch 2018 konnte der Politikwissenschaftler Philipp Manow in seinem viel beachteten Buch zur »politischen Ökonomie des Populismus« die Beispiele von Spanien und Italien heran­­­­­ziehen, um seine These zu illustrieren, wonach der Süden Europas auf die Folgen der Globalisierung mit »linkem«, der Norden mit »rechtem« Protest reagiere. Doch schon im Jahr darauf schaffte die ultrarechte Vox den Durchbruch mit über 15 Prozent bei den spanischen Parlamentswahlen. Die Erfolge erst der Lega von Matteo Salvini, dann der Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni in Italien haben seit 2019 gleich zwei verschiedene extrem rechte Parteien in der größten Volkswirtschaft Südeuropas in Regierungsämter gebracht.

Autoritär-populistische, extrem rechte Parteien sind heute in fast allen Ländern Europas Teil des etablierten Parteienspektrums und ein wesentlicher Faktor im Spiel der politischen Kräfte. In Deutschland ist die Normalisierung der AfD mit dem öffentlichen Schleifen der »Brandmauer« durch die Unionsparteien im Sommer 2023 vollzogen; der internationale Vergleich zeigt, dass sie wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Selbst spektakuläre Skandale müssen rechtspopulistischen Parteien dann nicht nachhaltig schaden. Das zeigt das Beispiel Österreichs: Die FPÖ hat sich von ihrer tiefen Krise nach diversen Korruptionsvorwürfen nicht nur erholt, sondern liegt in allen Umfragen seit Monaten auf dem ersten Platz.

Von Deutschland aus betrachtet mangelt es weder an internationalen Erfahrungswerten, was den Umgang mit dem autoritären Populismus betrifft, noch an Dringlichkeit, diesen Umgang anders zu gestalten. Und doch gehört es zu den besonders frustrierenden Zeichen unserer Zeit, dass die politischen Akteur*innen gerade alle Fehler wiederholen, die in Ländern wie Frankreich, Italien oder Österreich seit Jahren gemacht werden – und in den drei Ländern ist die extreme Rechte derzeit an der Macht oder in Umfragen stärkste Partei. Große Medien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk bieten der AfD kostenlosen Platz für ihre Propaganda – die einen, um Reichweite zu generieren; die nächsten, weil sie meinen, die Rechten sich selbst entzaubern lassen zu können; manche, weil sie selbst deren Ansichten teilen; wieder andere erhoffen sich Vorteile von der frühen Nähe zu einem künftigen Machtzentrum. Führende Konservative wollen der extremen Rechten den »Wind aus den Segeln nehmen«, wie es im Politikbetriebsjargon heißt, indem sie ihre Inhalte übernehmen. Und die Linke zerfetzt sich über der Frage, wie auf die rechten Erfolge zu reagieren sei: Gibt es von links etwas zu bergen im rechten Aufbruch? Sind, wie Chantal Mouffe meint, »viele der von rechtspopulistischen Parteien artikulierten Forderungen demokratische Forderungen [...], die einer progressiven Antwort bedürfen« (Mouffe 2018, 32)? Oder müssen im Gegenteil die Reihen gegen rechts im Namen der offenen Gesellschaft geschlossen, die entfesselten Kräfte als Ressentiment enttarnt und zurückgewiesen werden?

Ökonomie vs. Kultur?

Die sozialwissenschaftliche Forschung zu Populismus, die seit dem Trump- und Brexit-Jahr 2016 international boomt, hat in dieser Situation bedauerlich wenig anzubieten. Das beginnt schon damit, dass Unterstützung für autoritär-populistische Parteien weiterhin allzu oft als »Protest« (z. B. Manow 2018; Stegemann 2018) gedeutet und unterschätzt wird, dass sich der autoritäre Populismus längst als eigenständige Kraft im Kampf um Hegemonie etabliert hat. Die empirischen Befunde zur Ursache populistischer Erfolge sind widersprüchlich, die Interpretationsversuche doppeln weitgehend Konfliktlinien, die im politischen Feld selbst existieren. Sind es zuvorderst »ökonomische« Faktoren, die Menschen zur Wahl rechtspopulistischer Parteien treiben, oder »kulturelle«? Für beides finden sich Argumente in Büchern und Fachartikeln. 

Die klügeren Analysen weisen darauf hin, dass die Trennung zwischen »ökonomischen« und »kulturellen« Faktoren selbst irreführend ist (Mullis/Zschocke 2020; Biskamp 2019; vgl. Opratko 2021). Erstens weil sich im Alltagsverstand (nicht nur) jener, die autoritäre Politik unterstützen, sogenannte kulturelle und sogenannte ökonomische Elemente unauflöslich miteinander vermengen. Etwa wenn das Aussehen der Menschen in der Nachbarschaft in ein kausales Verhältnis zu tatsächlichen oder befürchteten negativen Erfahrungen im Arbeitsleben gesetzt wird. Wie Daniel Mullis und Paul Zschocke auf Basis von Interviews in Stadtteilen mit hohem AfD-Zuspruch folgern: »Aus unseren bisherigen Erfahrungen schließen wir, dass politische Entscheidungen [...] nicht in kausaler Weise beschrieben werden können. Ökonomische Faktoren sind nicht von kulturellen und vice versa zu trennen, vielmehr sind sie in alltäglichen Erfahrungen inhärent verschränkt« (Mullis/Zschocke 2020, 142).

»Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Ohnmachts- und Entfremdungserfahrungen in der Arbeitswelt und dem, was wir Ablehnungskulturen nennen.«

Zweitens verschränken sich die Faktoren nicht nur in der Alltagserfahrung der Subjekte, sie folgen auch als objektive Sachverhalte nicht der konventionellen Einteilung der Soziolog*innen. Warum werden Fragen der Migration oder der Geschlechter als Themenfelder dem »Kulturellen« zugeschlagen, während etwa Arbeitslosigkeit oder Lohnentwicklung klar als »Ökonomie« gilt? Tatsächlich gibt es kaum relevantere Faktoren als die Mobilität der Arbeitskraft und die Mobilisierung unbezahlter Frauenarbeit für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Verwertungskreislaufs, vulgo Ökonomie. Und wenn wir Kultur im Sinne der Cultural Studies als Lebensweisen und die in ihnen relevanten Sinngebungsinstanzen verstehen, ist die Art, wie jemand seine oder ihre Arbeitskraft verkauft, von grundlegender und unmittelbarer »kultureller« Bedeutung (vgl. Clarke in diesem Heft). Als wir im Forschungsprojekt »Cultures of Rejection« untersucht haben, wie autoritäre Politik an verschiedenen Orten in Europa akzeptabel wird, war das einer der grellsten Befunde (Bojadzijev/Opratko 2023). Wir stießen auf enge Zusammenhänge zwischen Ohnmachts- und Entfremdungserfahrungen in der Arbeitswelt und dem, was wir Ablehnungskulturen nennen: Lebensweisen, die von Werten und Affekten der Ablehnung getragen werden, wobei die konkreten Gegenstände der Ablehnung durchaus verschieden sein können (Harder/Opratko 2022). Oft richtet sich die Ablehnung gegen Migrant*innen und Geflüchtete, politische Eliten, Mainstream-Medien und andere Autoritäten und wird zur Grundlage für die Unterstützung autoritär-populistischer Politik.

Auf dem Spielfeld der Rechten

Die falsche Trennung von ökonomischen und kulturellen Dimensionen ist nicht bloß eine theoretische Frage. Sie hat direkte politische Folgen für die Weise, wie über den autoritären Populismus gesprochen, wie er missverstanden und wie ihm schlecht begegnet wird. Dann heißt es, die Linke müsse sich bloß wieder auf die »soziale Frage« besinnen und dem kulturellen Hokuspokus entsagen, um Kraft von den Rechten zurückzugewinnen; oder umgekehrt, es reiche aus, »klare Kante« zu zeigen gegen das autoritäre Welt- und Menschenbild der Rechten, um sie zurechtzustutzen. Dabei wird nicht verstanden, dass die so beschworene Trennung nicht nur analytisch unzutreffend, sondern, drittens, auch selbst ein politischer Effekt autoritär-populistischer Strategien ist. Wie Stuart Hall schon vor 40 Jahren für den Thatcherismus zeigen konnte, beruht das Erfolgsrezept des autoritären Populismus darauf, soziale Auseinandersetzungen systematisch in Felder zu verschieben, wo die Rechte Heimvorteil hat. Kriminalität ist so ein Thema, oder der Schutz der Kleinfamilie, in der »Frauen, repräsentiert als ›Hüterinnen‹ der Familie, [...] identifiziert [werden] mit der Bewahrerin traditionellen Wissens und der Wächterin herkömmlicher Volksmoral« (Hall 2014, 118). Und ganz besonders ist es das Feld des Rassismus und der Nation, konstituiert durch die Einteilung in »unser Volk« und »fremde Kulturen«, das es der Rechten erlaubt, »reale und gelebte Erfahrungen, reale Widersprüche«, wie Hall es 1979 formulierte, »systematisch in einer Diskurslogik zu repräsentieren, die sie systematisch auf die Linie der politischen und Klassenstrategien der Rechten zieht« (Hall 1979, 20). Wer heute »soziale« gegen »kulturelle« Themen ausspielt, bedient diese Diskurslogik und befindet sich schon mitten auf dem Spielfeld, auf dem der autoritäre Populismus seine Siege feiert.

Aus diesen Einsichten entstehen noch keine effektiven Gegenstrategien, aber sie zu ignorieren kann kostspielig werden. Es mag strukturelle, welthistorische Faktoren geben, die den Aufstieg autoritärer Kräfte begünstigen und bis zu einem gewissen Grad unausweichlich machen – das mögen zukünftige Historiker*innen analysieren. Für uns Zeitgenoss*innen drängt aber vielmehr die Frage: Was kann getan werden, um zu verhindern, dass die Kipppunkte erreicht werden? Vielleicht ist es weniger die aktuelle sozialwissenschaftliche Populismus- als die historische Faschismusforschung, die dafür hilfreich sein kann. Man muss freilich vorsichtig sein im historischen Vergleich, gerade in Deutschland: Zu leicht wird der Nationalsozialismus dabei durch die Gleichsetzung mit geringeren Übeln trivialisiert, zu leicht gerät der Ton alarmistisch oder unernst. Es gilt also gewissenhaft zu lesen und nicht faul zu denken.

Faschismus und gesellschaftliche (De-)Mobilisierung

Der an der Kritischen Theorie geschulte Soziologe Helmut Dubiel beschrieb »populistische Momente« in der Geschichte. In diesen verlieren die »herkömmlichen Orientierungen« einiger sozialer Gruppen »nicht nur ihre ökonomische Basis, sondern auch ihren kulturellen Ort in der gesellschaftlichen Rationalität« (Dubiel 1986, 47). Was würde aus einem »populistischen Moment«, wie er in den letzten Jahrzehnten immer wieder diagnostiziert wurde, einen möglichen faschistischen Moment machen? Dass Akteure mit entsprechenden Begehren etwa in der AfD existieren, wissen wir. Was wären Bedingungen, Handlungen, Ereignisse, die ihnen und ihresgleichen Bahn brechen könnten, welche könnten ihre Erfolge verhindern? Der US-amerikanische Historiker Richard Paxton erinnert daran, dass in den 1920er-Jahren faschistische Parteien und Bewegungen nicht nur in Deutschland und Italien, sondern auch in Frankreich und England, in den USA, in Island und im australischen New South Wales existierten (Paxton 2004, 85). Die entscheidende Frage ist: Warum waren sie hier erfolgreich und anderswo nicht? Paxton bietet zum besseren Verständnis ein Schema an, um das, was gemeinhin »Aufstieg des Faschismus« genannt wird, in fünf Stufen zu gliedern (Paxton 1998). Auf die Gründung faschistischer Bewegungen (Stufe 1) folgt deren Verwurzelung im politischen System ( Stufe 2), darauf die Machtübernahme (Stufe 3), die Ausübung der Macht (Stufe 4) und schließlich ihre Radikalisierung und/oder ihr Untergang (Stufe 5). In den meisten Ländern gelangen die Faschist*innen über die erste oder zweite Phase nicht hinaus.

Ob dieses Schema in unsere Gegenwart zu übersetzen ist, hängt zunächst davon ab, ob wir es aktuell überhaupt mit faschistischen Bewegungen oder Parteien zu tun haben. Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Paxton selbst etwa verwehrte sich lange dagegen, Donald Trump als Faschisten zu bezeichnen (Paxton 2017). Nach dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 änderte er seine Meinung: »Trump’s incitement of the invasion of the Capitol […] removes my objection to the fascist label. […] The label now seems not just acceptable but necessary« (Paxton 2021). Ein faschistischer Moment wäre davon gekennzeichnet, dass eine Hegemonie- und Autoritätskrise, wie sie etwa von Gramsci beschrieben wurde, politische Projekte hervorbringt und für signifikante Teile der Gesellschaft akzeptabel macht, die danach trachten, mit physischer Gewalt autoritäre Herrschaftsformen einzusetzen und Zugehörige bestimmter (oft, aber nicht notwendigerweise rassistisch) markierter Gruppen zu terrorisieren. Für Paxton war der offene Aufruf zur Gewalt gegen die Institutionen der bürgerlichen Demokratie der Schritt über die rote Linie. Allgemeiner formuliert: Ob wir es mit potenziell faschistischen Kräften zu tun haben, die gerade im Begriff sind, im politischen System Wurzeln zu schlagen, können wir daran ablesen, was sie mit den für den populistischen Moment charakteristischen »vagabundierenden Potenzialen« (Dubiel 1986, 47)– den Kränkungs- und Frustrationserfahrungen, den Ressentiments, den psychischen und affektiven Verhärtungen – anstellen. Autoritär-populistische Parteien nehmen sie auf, verstärken sie in ihren digitalen Mediennetzwerken, nutzen sie als Treibstoff für die Mobilisierung von Wähler*innen und bestärken die Ablehnungskulturen. Sie belassen diese Elemente aber in ihrer atomisierten, unorganisierten, »bizarr zusammengesetzten« Form. 

»In diesem Sinne ist die Charakterisierung des Populismus als »Antipolitik« zutreffend: Es ist Politik für Menschen, die von Politik die Schnauze voll haben.«

Alles ist auf die Partei und ihre Führungsfigur zugeschnitten. Die Message von AfD und Konsorten ist: »Wenn wir erstmal das Sagen haben, regeln wir das für euch!« In diesem Sinne ist die Charakterisierung des Populismus als »Antipolitik« zutreffend: Es ist Politik für Menschen, die von Politik die Schnauze voll haben. Faschistische Kräfte dagegen verstehen, dass sie für ihre weitreichenden Ziele »das Volk« nicht nur zum Wählen bringen, sondern Massen mobilisieren und organisieren müssen. Sie versprechen und ermöglichen gewaltvolle (Selbst-)Ermächtigung. Historisch haben dafür der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus nicht nur ihre eigenen Massenorganisationen geschaffen, sondern sich auch bestehende zivilgesellschaftliche Netzwerke und Institutionen wie Vereine, Klubs und Verbände einverleibt, noch bevor sie in die Nähe staatlicher Macht gelangt waren (Riley 2019; Satyanath u. a. 2017). Der Faschismus war demnach nicht Ergebnis gesellschaftlicher Entropie oder der Vereinzelung im Übergang zum Industriekapitalismus, sondern bildete gerade den »Zenit der ›wilden‹ Massenpolitik«, wie sie zuletzt etwa Anton Jäger (2023, 44) beschrieben hat: Ein hoher Grad an gesellschaftlicher Politisierung, verbunden mit einem hohen Grad an Institutionalisierung. Das ist lange her. Die Dichte dessen, was Gramsci einst Zivilgesellschaft nannte, ist in den letzten Jahrzehnten rapide zurückgegangen. Zu den strukturellen Bedingungen für den Erfolg autoritär-populistischer Parteien gehört gerade die Verödung der sozialen Landschaften, die Vereinzelung der Subjekte und der Rückzug ins Private. Könnten es die gleichen Bedingungen sein, die eine weitgehende Verwurzelung faschistischer Kräfte verhindern? Oder haben die Apparate der Zivilgesellschaft nur Ort und Form verändert? Sollten wir faschistische Organisierungsversuche nicht so sehr in Form von Vereinen, Banden und Aufmärschen suchen, sondern zum Beispiel in Onlineräumen, in Gruppenchats, als digitaler Mob (Harder/Opratko 2021; Strick 2021)? Und was passiert mit der politischen Kultur einer Gesellschaft, die ihre Lebensweise systematisch mit mörderischer Gewalt an ihren Außengrenzen absichert: Kann verhindert werden, dass die Gewalt in ihr Inneres zurückschlägt, als »choc au retour«, der die Barbarei in die »verfaulte Zivilisation« (Césaire 2017, 33) zurückträgt?

Der faschistische Moment ist in Deutschland nicht erreicht. Doch mit Blick auf die autoritären Kipppunkte, die bereits erreicht wurden und jene, die wir bereits erahnen können, scheint es, als wäre beides dringend nötig: politische Alternativen, die Fragen der Ökonomie und der Lebensweisen auf andere, attraktive Weisen zusammenbringen und den »populistischen Moment« auffangen können; und das Rüsten für den Sturm, der aufzieht, sollte das nicht gelingen.

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