Hitzewellen, Dürren und Starkregenereignisse führen uns täglich vor Augen, wie dringend der Kampf gegen den Klimawandel aufgenommen werden muss. Und zwar in allen Sektoren der Wirtschaft – auch im Verkehrssektor. Doch jahrelang sind notwendige Investitionen wie bei der Deutschen Bahn verschleppt worden, so dass der Zustand dieses Unternehmens nur noch mit „marode“ beschrieben werden kann. Massenhafte Zugverspätungen und Zugausfälle sind an der Tagesordnung. Der Beauftragte der Bundesregierung für den Schienenverkehr wird jüngst in einem Zeitungsartikel so zitiert: „Die Lage ist so dramatisch, dass es zur Generalsanierung des Netzes keine Alternative gibt.“ Die stellvertretende Vorsitzende der Eisenbahngewerkschaft EVG bringt es im Interview ebenfalls auf den Punkt: „Die Geduld der Leute ist einfach am Ende, sowohl beim Entgelt als auch bei den Arbeitsbedingungen.“ 

Die jüngsten gemeinsamen Streiks und Demonstrationen in Deutschland von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Fridays for Future am 3. März 2023 sowie die Tarifauseinandersetzungen der Eisenbahngewerkschaft EVG zeigen, wie wichtig sowohl den Klimaaktivist*innen als auch den Beschäftigten bei der Bahn und im ÖPNV die Verkehrswende ist: Es braucht sowohl einen Ausbau des Angebots als auch gute Arbeitsbedingungen und Löhne, um die Ausweitung von Schiene und ÖPNV überhaupt angesichts des Fachkräftemangels stemmen zu können.[1]

Steigende Treibhausgasemissionen

Der Verkehrssektor ist sowohl in Deutschland als auch in der EU insgesamt der einzige Bereich, in dem seit Jahren die CO2-Emissionen steigen. EU-weit ist er für etwa Viertel des Gesamtausstoßes verantwortlich. Davon wiederum stammt mit 77 Prozent der Großteil aus dem Straßenverkehr. Der Umstieg beim Personen- und Güterverkehr auf die Schiene bzw. ÖPNV ist also dringend geboten – mehr denn je braucht es eine solidarische Mobilitätswende. 

Aber es geht nicht voran: Für den Personenverkehr lag der Anteil der Schiene in Deutschland im Jahr 2022 bei viel zu niedrigen 10,7 Prozent (Eisenbahn, S-Bahn, U- und Straßenbahn), für Busse lag er bei 4,6 Prozent. Auch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene stagniert bei mageren 17 Prozent in der EU und 19 Prozent in Deutschland (2021). 

Mehr Liberalisierungsdruck auf Schiene und ÖPNV

Im Dezember 2020 legte die europäische Kommission ihre Strategie für eine nachhaltige Mobilität in der EU vor. Völlig zu Recht weist sie darin darauf hin, dass im Verkehrssektor EU-weit die Emissionen um 90 Prozent bis 2050 gesenkt werden müssen. Unter anderem soll sich der Anteil des Schienengüterverkehrs bis 2050 verdoppeln und der Anteil des Passagierverkehrs auf der Schiene deutlich steigen. 

Angesichts dessen sind die aktuellen politischen Entwicklungen sowohl auf der europäischen Ebene als auch in Deutschland besorgniserregend. Im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung steht eine mehrdeutige Formulierung, die nicht klar erkennen lässt, ob es zu einer Zerschlagung des integrierten Konzerns DB kommt oder nicht. Sollte es zu einer Abtrennung der Infrastruktur (also Trennung von Bahn Netz und Betrieb) kommen, werden die Voraussetzungen für Liberalisierung und Privatisierung geschaffen – und dies führt in der Folge zu einer Verschlechterung der Versorgung und zu Dumping bei Löhnen und Arbeitsbedingungen. So argumentieren sowohl das Bündnis „Bahn für Alle“ als auch die europäische Gewerkschaft der Transportarbeiter*innen (European Transport Workers Federation). 

Die jüngsten politischen Entwicklungen auf europäischer Ebene geben ebenfalls Anlass zur Sorge: Die europäische Kommission (die einzige politische Institution in der EU, die Gesetzesvorschläge vorlegen darf) plant, die Direktvergabe im Bahnsektor und ÖPNV einzuschränken bzw. abzuschaffen und damit den Zwang zur europaweiten Ausschreibung festzulegen. Beispielsweise drohte im Sommer 2022 die europäische Kommission der niederländischen Regierung mit einem Vertragsverletzungsverfahren, weil sie den Zuschlag per Direktvergabe an das staatliche Unternehmen Nederlandse Spoorwegen geben wollte. Die niederländische Regierung musste dagegen vor Gericht ziehen und gewann letztendlich. Nun könnte man berechtigterweise argumentieren, dass sich die europäische Kommission offensichtlich auf unsicherem juristischen Terrain bewegt, sonst hätte sie diesen Fall nicht verloren. Aber man muss auch bedenken: dieses Vorgehen schafft natürlich Unsicherheit für die Regierungen der Mitgliedstaaten und konterkariert bzw. verlangsamt so den notwendigen Umbau. 

Wenn die Möglichkeit zur Direktvergabe eingeschränkt bzw. abgeschafft wird, führt dies sowohl im Bahnsektor als auch im ÖPNV zu mehr Liberalisierung und damit stärkerem Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Dafür ist nicht einmal eine Gesetzesänderung notwendig: Denn die sogenannte public service obligation soll anhand neuer Regeln ausgelegt werden, so dass die Mitgliedstaaten dann nicht mehr die Möglichkeit haben, Aufträge direkt an eigene Anbieter zu vergeben und europaweit ausschreiben müssen. Und hinzukommt: Diese neuen Auslegungsregeln sollen unter völliger Umgehung der europäischen Gesetzgeber, nämlich Europaparlament und Rat, eingeführt werden, jedenfalls sehen bisher die Pläne der europäischen Kommission so aus (Stand März 2023). Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass einige EU-Gesetze durch entsprechende guidelines (Regeln) der europäischen Kommission ausgelegt werden. Aber in diesem Fall muss konstatiert werden, dass die politischen Folgen für diese neue Art der „Auslegung“ eben gravierend sind und nicht vorbei an den europäischen Gesetzgebern Parlament und Rat geschehen sollte. Gegen dieses undemokratische Vorgehen legte der europäische Gewerkschaftsbund der Transportarbeiter*innen (European Transport Workers‘ Federation ETF) bei einer Demonstration am 28. Februar 2023 eine Schweigeminute ein. 

Europäische Regeln für staatliche Beihilfe 

Ein weiteres Hindernis tut sich nun auf der EU-Ebene auf: Die Regeln für staatliche Beihilfe werden teilweise so eng ausgelegt, dass Mitgliedstaaten ihren Schienenverkehrsunternehmen nicht selbstverständlich finanziell unter die Arme greifen dürfen. Es wäre aber angesichts des Klimawandels vielmehr geboten, die europäischen Beihilferegeln so zu ändern, dass Schienenverkehrsunternehmen selbstverständlich öffentliche Gelder als Beihilfe erhalten können. Dies ist eine politische Entscheidung. Zwar hat die europäische Kommission erst im März 2023 die sogenannte Gruppenfreistellungsverordnung gelockert (auch auf Druck der linken Fraktion im Europaparlament), aber dies scheint in der konkreten Anwendung den Schienenverkehrsunternehmen nicht zu nutzen. 

Problematische Entscheidungen drohen von Seiten der europäischen Kommission in Bezug auf das französische staatliche Bahnunternehmen Fret SNCF, wo derzeit eine Untersuchung läuft, ob die staatliche Beihilfe, die zwischen 2007 und 2019 gezahlt wurde, „erlaubt“ war. Die französische Regierung nimmt dies zum Anlass, die Fret SNCF abzuwickeln, wodurch voraussichtlich 500 Arbeitsplätze verloren gehen werden. Eine ähnliche Untersuchung hat die Kommission wegen staatlicher Beihilfezahlungen durch die deutsche Bundesregierung für DB Cargo eingeleitet. Gegen dieses Vorgehen verabschiedete der Europäische Gewerkschaftsbund am 26. Mai 2023 eine Resolution und forderte, diese Angriffe auf öffentliche Unternehmen einzustellen. 

Recht auf Streik und Mitbestimmung

Die jüngsten Streiks im Transportsektor in England, Frankreich und Deutschland zeigen, wie wichtig dieses Mittel ist, um gute Arbeitsbedingungen und Löhne durchzusetzen oder, wenn dies nicht gelingt, so doch zumindest auf die politische Tagesordnung zu setzen. Und gemeinsame Streiks von Klimabewegung und Gewerkschaften (wie z.B. von ver.di und Fridays for Future) können den Forderungen nach mehr Klimaschutz Gewicht verleihen.

Die Erfolge der Streiks in Deutschland von „Notruf NRW“ im Gesundheitssektor und der Abschluss der Metall-Tarifrunde in Deutschland sprechen für sich. Umso besorgniserregender ist, dass mithilfe der europäischen Verordnung „Notfallinstrument für den Binnenmarkt“ (Single Market Emergency Instrument – SMEI) das Recht auf Streik von europäischer Ebene aus eingeschränkt werden könnte. Der Vorschlag wurde im September 2022 von der Kommission präsentiert und wird höchstwahrscheinlich im Plenum des Europaparlaments im September 2023 abgestimmt. Wie diese Abstimmung ausgeht, ist natürlich ungewiss. Aber es ist besorgniserregend, dass das Recht auf Streik im präsentierten Gesetzentwurf – anders als in der bislang geltenden „Strawberry-Regulation“ – nicht erwähnt wird. So argumentiert auch der Europäische Gewerkschaftsbund in seiner Stellungnahme vom Oktober 2022. Insofern ist es nur folgerichtig, die Fixierung des Streikrechts für das kommende überarbeitete Gesetz zu fordern. Denn angesichts der zukünftigen Umwälzungen durch die notwendige sozial-ökologische Transformation ist es umso wichtiger, dass die Rechte von Beschäftigten, Gute Arbeit und sozialstaatliche Standards gesichert werden – auch durch das Mittel des Streiks.

Es ist zwar lobenswert, dass die europäischen Gesetzgeber mit der Revision der Mindestlohnrichtlinie die Rechte von Beschäftigten gestärkt haben, aber der hier diskutierte Vorschlag zum „Notfallinstrument für den Binnenmarkt“ zielt leider politisch (ob absichtlich oder durch Nachlässigkeit) in eine andere Richtung. Sollte das Recht auf Streik nicht Teil dieses Gesetzes werden, besteht die Gefahr, dass Streiks zukünftig als „Hindernisse für das Funktionieren des Binnenmarktes“ interpretiert und im Zweifelsfalle untersagt werden können (siehe hier auch die Argumentation des Europäischen Gewerkschaftsbundes).

Der EU-Vertrag (AEUV) ist hier ganz auf der Seite der Beschäftigten: Denn Artikel 153(5) schreibt vor, dass das Recht auf Streik nicht in die Gesetzgebungskompetenz der EU fällt und daher unangetastet bleiben muss. Der Artikel 28 der Grundrechtecharta der EU garantiert es ebenfalls ganz klar. Daher wiederholte Esther Lynch, Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes, am 17. Mai 2023, auf dem Abschlusspodium der Konferenz „Beyond Growth“ die Forderung, das Recht auf Streik zu schützen und in der SMEI-Vorgabe entsprechend zu ergänzen.

Anstatt Arbeitnehmerrechte einzuschränken, muss vielmehr die Mitbestimmung in den europäischen Unternehmen ausgebaut werden – zum Beispiel durch einen europäischen Rahmen für Mitbestimmung (European framework for more democracy at work), denn Demokratie darf nicht am Werkstor Halt machen. Im Gesetzespaket der EU zum klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft, dem sogenannten EU Fitfor55, fehlt dieses Element leider bisher völlig. Dies wäre aber umso wichtiger, damit die Beschäftigten, z.B. in der europäischen Autoindustrie, in Unternehmensentscheidungen eingebunden werden, die notwendige Transformation vorangebracht werden kann und Entscheidungen nicht über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Denn die Beschäftigten in der Industrie wissen in vielen Fällen sehr genau, welche klimafreundlichen Produkte anstelle von klimaschädlichen Produkten produziert werden können: Das Fabrikkollektiv von GKN (ein ehemaliger Autozulieferer) in Florenz macht es vor und hat einen Plan für eine klimafreundliche Konversion der Produktion verfasst. Mehr Mitbestimmung kann also zu mehr Akzeptanz des sozial-ökologischen Umbaus führen und daher auch zu mehr Unterstützung für den Ausbau von ÖPNV und Schiene sowie für den notwendigen Umbau der Autoindustrie.

Grenzüberschreitender Schienenverkehr

Und zu guter Letzt müssen die grenzüberschreitenden Schienenverbindungen ausgebaut, die Rechte der Passagier*innen gestärkt und ein verständliches, europaweit geltendes Buchungssystem für Fahrkarten eingerichtet werden. Bei dem Ausbau der Nachtzugverbindungen geht europaweit einiges voran, und es wäre dringend geboten, die Nachtzüge durch eine Senkung der Mehrwertsteuer und der Trassenpreise zu fördern, damit sie gegenüber dem Flugzeug günstiger und damit attraktiver werden. Eine Studie von Transport & Environment und Back on Track zeigt, dass kleine Anpassungen in dieser Richtung die Ticketpreise im Schnitt um 15 Prozent senken könnten. Die Luftfahrt erhält weiterhin großzügige Subventionen, die mit Klimaschäden einhergehen. Umso wichtiger wäre es, die teuren Nachtzüge preiswerter zu gestalten, um ihren Anteil am modal split zu erhöhen.

Fazit

Um den ÖPNV und die Bahn europaweit auszubauen, brauchen wir weniger Wettbewerbs- und Privatisierungsdruck – stattdessen den Erhalt der Direktvergabe und idealerweise Unternehmen in öffentlicher Hand, die den Anteil von ÖPNV und Bahn am modal split spürbar erhöhen können. Auch müssen die europäischen Regeln zu staatlicher Beihilfe entweder geändert oder zukünftig so ausgelegt werden, dass Unternehmen in diesen Bereichen staatliche Beihilfe erhalten können, ohne dass die Regierungen der Mitgliedstaaten unter politischen Druck von Seiten der europäischen Kommission geraten. Um die Transformation hin zu mehr Klimaschutz auch auf Produktionsseite zu erreichen, braucht es aber auch mehr Mitbestimmung durch die Beschäftigten. Streiks und vor allen Dingen gemeinsame Streiks von Klimabewegung und Beschäftigten sind ein wichtiges politisches Druckmittel und müssen natürlich als Recht erhalten bleiben. Und zu guter Letzt muss der Ausbau der Nachtzugverbindungen beschleunigt werden, bei gleichzeitiger Senkung der Ticketpreise, damit Bahnfahren noch attraktiver wird und der klimafreundliche Wandel im Verkehrssektor europaweit gelingen kann.