Etwa die Hälfte der Krankenhäuser in Deutschland ist von Schließung bedroht, obwohl sie alle, mit Ausnahme der Privatkrankenhäuser, in den Plänen der Bundesländer als notwendig definiert werden. Wie kann das sein?

Das ist das Ergebnis der Politik der letzten 20, 30 Jahre. Mit der Einführung der Fallpauschalen wurde das Prinzip der sogenannten Selbstkostendeckung abgeschafft, also dass man zuerst den Bedarf ermittelt und dann das Geld zur Verfügung stellt. Heute müssen die Krankenhäuser als normale Wirtschaftseinheiten agieren, mit festgelegten Preisen. Machen sie keine Gewinne oder kommen sie nicht zumindest auf eine schwarze Null, sind sie insolvenzgefährdet. Inflation und Energiekrise haben das noch verschärft.

Ist das politisch gewollt? Würde dann nicht die Versorgung zusammenbrechen?

Die Zahl der Häuser massiv zu reduzieren ist das erklärte politische Ziel. Dabei stützt man sich auf Zahlen, die behaupten, dass es eine massive Überversorgung gebe. Doch die beziehen sich höchstens auf einzelne Ballungszentren, wo es tatsächlich eine relativ hohe Dichte an Krankenhäusern gibt – auch wenn man sich das für einzelne Fachgebiete nochmal genauer anschauen muss. Bedroht sind vor allem die Kliniken in ländlichen Regionen, die einen breit gefächerten Bedarf bedienen und dringend gebraucht werden. Es droht eine massive Ausdünnung in der Fläche. Das wäre nicht nur ein GAU für die Gesundheitsversorgung, sondern auch für die Demokratie. Die Benachteiligung des ländlichen Raums ist Wasser auf die Mühlen der Rechten.

Im Krankenhausbereich gibt es immerhin eine öffentliche Planung. Warum funktioniert sie nicht?

Weil die eigentlich gute Idee schlecht umgesetzt wird. Im Zuge der Marktsteuerung haben die Länder ihren Planungsanspruch immer mehr zurückgefahren. Statt zu überlegen, wo welche Fachabteilungen gebraucht werden, machen sie den Häusern nur grobe Vorgaben, und die schauen dann selbst, wie sie wirtschaften. Zudem wurden die rechtlichen Kompetenzen der Länder geschwächt. Sie haben kaum mehr die Möglichkeit, einem Krankenhausbetreiber vorzuschreiben, auf eine lukrative Fachabteilung zu verzichten. Mit der neuen Krankenhausreform von Karl Lauterbach werden zwar einige Planungskriterien gestärkt. Aber den Ländern fehlen sowohl die Planungskapazitäten wie die finanziellen Mittel. 

»Es ist absurd, wie viele Leute gegen Unterkünfte für Geflüchtete kämpfen, anstatt ihr lokales Krankenhaus zu verteidigen.«

Denn für eine wirkliche Veränderung bräuchte es massive Investitionen. Am Ende ist es immer das gleiche Problem: Der Staat hat sich durch den Verzicht auf Steuereinnahmen und die Schuldenbremse selbst handlungsunfähig gemacht, auf Kosten der sozialen Infrastruktur.

Warum machen die Länder keine Gesamt­planung mehr? Aus ideologischen Gründen? Oder können sie es nicht?

Eine Planungssystematik zu entwickeln ist nicht einfach, dafür braucht man konzeptionelle Ressourcen. In den letzten 30 Jahren wurde die öffentliche Planungskompetenz völlig ausgetrocknet. In den Behörden gibt es Leute, die durchaus guten Willens sind, denen aber die Mitarbeiter*innen fehlen, um einen Plan aufzustellen und im Zweifel gegen Krankenhauskonzerne durchzusetzen. Man müsste den Bereich komplett neu aufbauen.

Wie demokratisch werden denn die Landeskrankenhauspläne heute entwickelt?

Vom Anspruch her ist es ein Multi-Stakeholder-Ansatz, in der Praxis reines Regierungshandeln, zumindest hier in Berlin. Wie in den meisten Bundesländern wird der Plan als Verordnung in einem Parlamentsausschuss zur Kenntnis gegeben. Das Landesrecht sieht einen Beraterkreis mit nichtstaatlichen Akteuren vor, doch der hat nur kommentierende Funktion. Die wirkliche Aushandlung findet nur zwischen den Krankenhäusern, der Senatsverwaltung und den Krankenkassen statt.

Im Gesundheitswesen gibt es starke Player, die keine klassischen Marktakteure sind: die Spitzenverbände der Selbstverwaltung wie Krankenkassen und Ärztevereinigungen. Ist das ein Potenzial für demokratische Planung?

Bei der Frage der Gesundheitsplanung werden die Tücken der Verstaatlichung bzw. Vergesellschaftung deutlich. Neoliberale Strategien folgten hier nicht einfach der Logik »Markt vs. Staat«. Sie wurden oftmals unter dem Schlagwort der Selbstverwaltung und Subsidiarität eingeführt. Das hat dazu geführt, dass auch nichtstaatliche Akteure in den Gremien zunehmend marktförmig agieren und egoistische Interessen ausbilden. Die Krankenhäuser, aber auch die organisierte Ärzteschaft und die Krankenkassen sind heute mächtige Wirtschaftsakteure, die die Strukturen der Selbstverwaltung nutzen, um ihren eigenen Markt zu gestalten und ihre Position darin zu verbessern. Das kann auf Kosten ihrer fachlichen Glaubwürdigkeit gehen.

Wie sieht es mit der Beteiligung der Beschäftigten und Patient*innen aus?

Im System der Selbstverwaltung haben heute nur die Wirtschaftakteure eine Stimme. Patient*innen haben nur eine Art Anhörungsrecht. Beschäftigte sind gar nicht beteiligt. Ver.di strebt das unter den jetzigen Bedingungen auch gar nicht an: Man will sich aus den vermachteten Strukturen eher raushalten, weil man nicht die Ressourcen hat, sich wirklich einzubringen. Schließlich muss man sonst auch Entscheidungen mitverantworten.

Wie würde mehr demokratische Kontrolle aussehen?

Das ist eine gute Frage. Die neoliberalen Reformen im Gesundheitssystem wurden ja genau damit begründet, mehr Transparenz und Kontrolle herstellen zu wollen. Ein wirtschaftliches Anreizsystem sollte egoistische Einzelinteressen und vor allem die unkon­trollierte Macht der Ärzt*innen einhegen. Das ist zwar nicht gelungen – de facto haben sie im System der Fallpauschalen mehr ökonomische Macht, weil nur ihre Behandlungen und Diagnosen vergütet werden –, aber das Ziel fanden viele gut. Das zeigt, dass es neue Formen der demokratischen Kontrolle braucht, keine einfache Rückkehr zum System der Selbstkostendeckung, das auch von Hierarchien und Eigeninteressen geprägt war.

Aber was wäre die Alternative?

Ein System, das echte fachgerechte Diskussionen ermöglicht, ähnlich der Wissenschaft. Es muss auf wechselseitiger intraprofessioneller Kontrolle basieren und fachliche Anerkennung als zentrale Währung setzen. Dabei darf nicht nur das Wissen von Ärzt*innen zählen, sondern auch das von Pflegekräften und Therapeut*innen. Da könnten wir von Ländern lernen, wo keine so starre Hierarchie zwischen den Berufsgruppen herrscht. Und natürlich müssten die Patient*innen eine zentrale Rolle spielen. Das ist nicht leicht, weil in der Regel nur eine kleine Minderheit – diejenigen mit schweren und chronischen Krankheiten – motiviert ist, sich einzubringen. Für eine Beteiligung auf Augenhöhe müssten sie sich stärker in Verbänden organisieren.

Im Gesundheitssystem geht es um sehr komplexe Fragen. Kann man die überhaupt demokratisch entscheiden?

Stimmt, gerade in der Gesundheitspolitik braucht es viel Expertise, um Sachverhalte einschätzen zu können. Falsch verstandene Partizipation kann auch problematisch sein. Die Pharmaindustrie etwa instrumentalisiert immer wieder Patientenorganisationen, um neue Verfahren möglichst schnell freizugeben, obwohl sie noch nicht durchgeprüft sind. Es kann Jahrzehnte dauern, bis Krebsmedikamente für den freien Markt zugelassen sind, aus guten Gründen. In dem Zeitraum können unzählige Menschen sterben. Mit dieser Spannung muss man umgehen, wenn man über Demokratisierung redet.

Was wäre ein guter Umgang damit? 

Man könnte hier viel von der partizipativen Stadtplanung lernen. Dort gibt es Ansätze, die Expert*innen, also Stadtplaner*innen, Architekt*innen etc., gezielt darin auszubilden, Sachverhalte so zu präsentieren, dass sie diskutierbar sind. Es muss klare fachliche Vorgaben geben, damit ein Gebäude nicht einstürzt, aber die Ausgestaltung ist verhandelbar. Die Expert*innen haben die Aufgabe, ein Grundgerüst zu entwickeln, in das die unterschiedlichen Interessen deliberativ einfließen können. Denn ja, Patient*innen haben nicht die gleichen Interessen wie die Beschäftigten und auch mal andere als die Beitragszahler*innen. Ein ernsthafter demokratischer Prozess muss das mitdenken und ein fachliches Gerüst spannen, das Diskussionen und transparente Aushandlungen zulässt.

Ist eine solche Beteiligung auf der kommunalen Ebene der Bedarfsplanung einfacher?

Ja, Raum ist ein wichtiger Faktor für Demokratie. Natürlich braucht man auch eine Zentralisierung auf Bundesebene und Pläne der Bundesländer. Aber unterhalb dessen können wir quer zu Länder- oder Stadtgrenzen Gesundheitsregionen definieren und dort konkret aushandeln, was gebraucht wird.

Welche Aussicht auf Erfolg haben Kämpfe für eine Bedarfsplanung vor Ort, etwa zur Verteidigung eines Krankenhauses?

Es müsste uns gelingen, um diesen Kampf ein demokratisches Pathos zu organisieren. Es ist doch völlig absurd, wie viele Leute gegen Unterkünfte für Geflüchtete kämpfen, anstatt aus einer lebensbejahenden Perspektive ihr lokales Krankenhaus zu verteidigen. Das Problem ist auch, dass es bisher nur Abwehrkämpfe gegen die Schließung eines konkreten Standortes gibt. Eigentlich müsste es aber um Beteiligung an der Planung gehen. Man müsste sagen: Wir wollen unsere Gesundheitsregion gestalten und alle beteiligten Akteure an den Tisch holen. Das Ganze wird obsolet, wenn der finanzielle Rahmen so eng ist, dass nur noch verschiedene Formen der Mangelverwaltung zur Auswahl stehen.

Das heißt, offensiv die Finanzierungsfrage zu stellen – auch angesichts der neuen Krankenhausreformen?

Genau. Die Reform gefährdet unsere Gesundheitsversorgung und die Arbeitsbedingungen. Es wird argumentiert, dass man kein zusätzliches Geld in ein dysfunktionales System stecken will. Unsere Antwort müsste sein, als Region oder Bundesland einen Plan zu entwickeln für funktionierende Versorgung und dann festzulegen, wie viel Geld man dafür braucht. Die Zentralisierung der Krankenhauslandschaft in Dänemark hat 1 000 Euro pro Einwohner gekostet. Auf Deutschland umgerechnet wären das 80 Milliarden Euro. Das sollten wir es uns kosten lassen. Nicht für ein System, das von oben technokratisch vorgegeben wird, sondern für eines, das die Gesundheitsregionen selbst entwickeln.


Das Gespräch führten Justus Henze und Hannah Schurian.

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