Um die Strategie der LINKEN in der Krise ist eine intensive Debatte entbrannt. Dass es einer Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit bedarf, teilen viele. Auch, dass Gewerkschaften dafür eine zentrale Rolle spielen. Doch wie eine klassenorientierte Gewerkschaftspolitik der LINKEN aussehen soll, daran scheiden sich die Geister. Auf der Webseite der deutschsprachigen Jacobin-Ausgabe erschien jüngst ein Artikel von Ulrike Eifler mit dem schönen Titel „Warum die Linkspartei Gewerkschaften priorisieren muss“. Ein guter Anlass, um zu diskutieren, was eine solche Priorisierung eigentlich bedeutet – und welche Ansätze es heute schon dafür gibt. 

Organizing und Gewerkschaftsalltag sind keine Gegensätze

Ulrike Eifler argumentiert mit einer Gegenüberstellung, die sich durch viele Debattenbeiträge der letzten Zeit zieht: Der vermeintliche Gegensatz von „Detailfragen des Arbeitsalltags“ einerseits und Organizing-Strategien andererseits, verbunden mit dem Vorwurf, dass sich der Blick der LINKEN und der Rosa-Luxemburg-Stiftung derzeit auf Strategien des Organizing „verengt“ habe und die zentralen arbeitspolitischen Anliegen der Beschäftigten aus dem Blick verliere. Warum man diese beiden Aspekte der Gewerkschaftspraxis gegeneinander diskutieren sollte, erschließt sich aber nicht. Zwar ist natürlich richtig, dass zeitgenössische Gewerkschaftsarbeit im Betrieb aus weit mehr besteht als nur der Organisation von Arbeitskämpfen. Es kann nicht jeden Tag gestreikt werden, sei es aufgrund der Friedenspflicht oder durch einen Mangel an Organisationsmacht. Und ja, natürlich findet auch in solchen Zeiten vielerorts kontinuierlich Gewerkschafts- und kritische Betriebsratsarbeit statt – nicht nur in Betriebsversammlungen und Newslettern, sondern auch in langwierigen Gerichtsverfahren und nervenaufreibenden Einigungsstellensitzungen. Aber auch dabei müssen die Belegschaften eingebunden werden. Es ist ein Allgemeinplatz der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, dass die schönsten Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats zu stumpfen Schwertern werden, wenn sie nur in Hinterzimmerverhandlungen zum Einsatz kommen. Die Kreativität moderner Großkanzleianwält*innen ist schier unendlich, wenn es darum geht, Forderungen der Belegschaft mit immer neuen juristischen Konstruktionen abzuwehren oder sie in mehrjährigen Marathonverhandlungen aufzureiben. Wenn sich die Bemühungen der Interessenvertreter*innen nicht auf einen breiten Rückhalt in der Belegschaft stützen können, sind diesen Angriffen keine Grenzen gesetzt. Doch so ein Rückhalt muss organisiert werden. Auch dort, wo die Wut groß ist und der nötige Mut bereits vorhanden, sind Belegschaften beim Aufbau betrieblicher Gegenmacht auf eine strukturierte Vorgehensweise angewiesen, wenn sie der Macht der Konzerne etwas entgegensetzen wollen. Organizing-Methoden helfen gegen die Angst um den Arbeitsplatz und das Gefühl der Ohnmacht, die heutzutage viele Belegschaften fest im Griff haben. Das gilt nicht nur während eines Arbeitskampfs, das gilt auch im betrieblichen Alltag.


Trotzdem stimmt der Hinweis, dass sich eine tragfähige Gewerkschaftsstrategie nicht darauf beschränken darf, einfach nur „mehr zu werden“. Die jüngsten Tarifbewegungen haben gezeigt, dass Staat und Kapital trotz zahlreicher Legitimitätskrisen und eingeschränkter Handlungsfähigkeit weiterhin in der Lage sind, auch kämpferischen und gut organisierten Belegschaften erheblichen Widerstand entgegenzusetzen. Dem Industriekapital fällt es trotz pandemie- und kriegsbedingter Risse in den globalen Lieferketten immer noch relativ leicht, mit der Auslagerung der Produktionsstätten nach Fernost zu drohen oder das Schreckgespenst einer Niederlage gegen die asiatische Preiskonkurrenz an die Wand zu malen. So verwandeln sich laute Streikforderungen von Belegschaften oft in ein leises Flüstern. Und auch für Entscheider*innen der öffentlichen Hand reicht es bis auf weiteres, achselzuckend auf „leere Kassen“ zu verweisen, wenn Beschäftigte der öffentlichen Daseinssorge bessere Arbeitsbedingungen einfordern. Selbst die starken Tarifbewegungen der Post-, der Bahn- und der Krankenhausbelegschaften mussten ihre Verhandlungen mit der öffentlichen Hand unter dieser Prämisse führen – obwohl die Apologet*innen der Schuldenbremse auf Bundesebene gerade erst einhundert Milliarden Euro für Aufrüstung ausgegeben hatten. Gewerkschaftliche Organisationsmacht allein reicht oft nicht aus, um sich unter solchen Bedingungen zu behaupten. Hier sind Gewerkschaften auf politische Allianzen angewiesen. 

Klare Abgrenzung zur SPD

Die LINKE muss alles daran setzen, die wichtigste parteipolitische Bündnispartnerin der Gewerkschaftslinken in diesen Auseinandersetzungen zu werden. Dies bedarf einer deutlichen Abgrenzung von der Gewerkschaftspolitik der SPD. Es darf niemals eine Strategie der Partei werden, die Gewerkschaftspolitik der SPD nachzuäffen – weder die aus der vermeintlich „guten alten Zeit“ noch die, bei der die SPD den Gewerkschaftsspitzen öffentlichkeitswirksam nach dem Mund redet. Mit diesem Ansatz gibt es nichts zu gewinnen. Dies gilt nicht nur deshalb, „weil die Leute immer das Original wählen“, sondern vor allem, weil sich die neoliberale Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik der SPD auch unter dem neu aufgetragenen Gewerkschaftslack kaum ein Jota von der Politik der anderen Ampel-Parteien unterscheidet. Unter der Parteivorsitzenden Saskia Esken und dem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil mag dies nicht mehr ganz so offenkundig sein wie in der Ära von Sigmar Gabriel und Andrea Nahles, als die SPD so in ihrer Rolle als miesepetrige Sachwalterin des neoliberalen Status Quo aufgegangen war, dass sogar die hartgesottensten-Sozialdemokrat*innen im DGB auf Distanz gingen. Heute stellt sich das schon wieder ganz anders dar: Zwar rührt niemand in der SPD an den Pfeilern, auf denen der Neoliberalismus bundesdeutscher Prägung ruht, namentlich am lediglich kosmetisch umbenannten Hartz-IV-Regime. Aber immerhin hat Hubertus Heil immer ein offenes Ohr für Anliegen der Gewerkschaftsspitzen, bemüht sich um belastbare Home-Office-Regeln und kämpft für ein belegschaftsfreundliches Gesetz zur Arbeutszeiterfassung. Im Vergleich mit den Attacken seiner Amtsvorgängerin auf die Koalitionsfreiheit („Tarifeinheitsgesetz“) und ihrer versteckten Förderung prekärer Beschäftigung („Nahles-Gesetz“) lesen sich die Gesetzesentwürfe seines Ministerium wie die solide Hausmannskost, wegen der die SPD-Küche vielen Gewerkschafter*innen früher so gut schmeckte. Dementsprechend steigen die Zustimmungswerte in DGB-Kreisen wieder spürbar an. 


Statt diese Strategie imitieren zu wollen, darf die LINKE keine Gelegenheit verstreichen lassen, die vorgeblich gewerkschaftsfreundliche Politik der SPD und ihrer Koalitionspartner*innen als das zu benennen, was sie ist: reine Kosmetik. All diese Gesetzlein sind zur Korrektur des sozialen Kahlschlags, den die sozialdemokratische Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der letzten zwei Jahrzehnte angerichtet hat, ungefähr so geeignet wie ein Heftpflaster für die Behandlung einer Schusswunde. Diese Aufklärungsarbeit muss ein Schwerpunkt der Gewerkschaftsarbeit der LINKEN bleiben. 

Systemkritik aus konkreten Kämpfen entwickeln

Eine linke Strategie im Jahr 2023 darf sich allerdings auch nicht darauf beschränken, die SPD-Sünden der Vergangenheit aufzuzählen – auch wenn die Erinnerung daran, wer die Agenda 2010 aus der Taufe gehoben und seine Stimmen für die Schuldenbremse hergegeben hat, unbedingt wachgehalten werden muss. Um die Herzen der nächsten Generation von Gewerkschafter*innen zu gewinnen, muss die LINKE der Standort-Politik der Ampelregierung im Hier und Jetzt die konkrete Utopie einer Ökonomie gegenüberstellen, die die Imperative der Warengesellschaft hinterfragt. Dass dies keineswegs auf eine abstrakte linke Schwärmerei vom kommunistischen Wolkenkuckucksheim hinauslaufen muss, das keinen Bezug zu konkreten gewerkschaftlichen Kämpfen hat, dafür haben Stiftung und Partei in den vergangenen Jahren und Monaten reichlich Anschauungsmaterial geliefert: 


Mit der Unterstützung der Krankenhausbewegung in Berlin, NRW und Hessen hat die Partei nicht nur mit den Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege gekämpft. Sie hat auch öffentlichkeitswirksam auf den Zusammenhang zwischen diesen Arbeitsbedingungen und dem neoliberalen Umbau des Gesundheitswesens hingewiesen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat dies immer wieder mit einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik unterfüttert und am konkreten Beispiel des Krankenhauses eine Kritik des herrschenden Begriffs von „Ökonomie“ herausgearbeitet. In diesem Begriff wird wirtschaftlich nur diejenige Arbeit anerkannt, die Profite schafft, alle anderen Arbeiten werden entweder ins Reich der privaten Sorgearbeit verbannt, die die herrschende Geschlechterlogik gemeinhin weiter Frauen zuweist oder einem defizitär organisierten Gesundheitswesen überantwortet. Dessen Ineffizienz erscheint geradezu natürlich, wenn man diese Profitlogik erst einmal verinnerlicht hat. 


Ein weiteres Beispiel ist die 2022 erschienene Studie „Spurwechsel“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die anhand konkreter Zahlen aufzeigt, dass ein sozial-ökologischer Umbau der Mobilitätsindustrien möglich ist, weil eine alternative industrielle Produktion abertausende Arbeitsplätze schaffen könnte und die mit einer Abkehr vom urbanen Individualverkehr verbundenen Beschäftigungsverluste (über)kompensieren können. Ein solcher Debattenbeitrag darf der LINKEN aber nicht nur als Vorlage für eine „bessere“ Industriestandortpolitik dienen. Er muss genutzt werden, um lange verschlossene Diskursräume wieder zu eröffnen. Er hinterfragt, warum in der Warengesellschaft um den Preis der Klimakatastrophe weiter Profite „erwirtschaftet“ werden müssen, statt gebrauchswertorientiert zu produzieren und die Rettung des Planeten zur ersten Priorität zu erklären. 


Auch die Debatte um die Vier-Tage-Woche gehört in diese Reihe. Nachdem die ehemaligen SPD-Chefsachbearbeiterinnen des Ressorts „Arbeit und Soziales“ sich im vergangenen Winter noch „kapitalismuskritische Grundsatzdebatten“ (Jasmin Fahimi im Dezember 2022) verbeten hatten und den Forderungen der nächsten Beschäftigtengeneration nach kürzeren Wochenarbeitszeiten ein markiges „Arbeit ist kein Ponyhof!“ (Andrea Nahles im Januar 2023) entgegenschleuderten, sahen sich ihre Amtsnachfolger*innen im Frühjahr 2023 plötzlich bemüßigt, Sonntagsreden über die Vorteile einer Vier-Tage-Woche anzustimmen – freilich nur in den Feuilletons, ohne jede politische Konsequenz. Die Parteivorsitzende Janine Wissler reagierte darauf pünktlich zum Ersten Mai mit einem konkreten Konzept zur Arbeitszeitverkürzung und zeigte auf, wie mit Modellversuchen gestartet und die Viertagewoche sodann über einen Zeitraum von zwei Jahren in drei Schritten eingeführt werden könnte. So wird eine Grundsatzkritik der Lohnarbeit möglich, die auch jenseits von Marxlesekreisen verfängt. Sie knüpft an konkrete Bedürfnissen an, die junge Beschäftigte, beflügelt durch die ungewohnt günstige Arbeitsmarktlage, selbstbewusst artikulieren. 


Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Hierher gehört auch ein Verweis auf die Konferenzreihe Gewerkschaftliche Erneuerung (die „Streikkonferenzen“), mit der die Stiftung seit nunmehr zehn Jahren linke Gewerkschafter*innen vernetzt. Dabei bereichert sie nicht nur die gewerkschaftspolitische Debatte um eine Perspektive der konkreten Utopie, sondern arbeitet auch heraus, dass „die großen gesellschaftspolitischen Fragen“ von Klimawandel, Rassismus und Geschlechtergerechtigkeit in den Gewerkschaften „genauso intensiv behandelt werden wie überall sonst – nur eben mit Fokus auf die Auswirkungen für Arbeitnehmer*innen“ (Ballweber/Hermann 2023). Und auch die Kampfansage der Partei DIE LINKE gegen das restriktive Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik gehört in diese Aufzählung. Schließlich steht die rückwärtsgewandte Streikrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht nur linken Mammutprojekten wie dem bundesweiten Frauenstreik oder den Klimastreiks entgegen. Sie erschwert auch konkrete gewerkschaftliche und „wilde“ Arbeitskämpfe, wie etwa den Widerstand der Industriebelegschaften gegen Betriebsschließungen und Standortverlagerungen, den Kampf der Berliner Lieferkuriere gegen ultraprekäre Arbeitsbedingungen und die Bewegung der Universitätsbeschäftigten gegen die Dauerbefristung ihrer Arbeitsverhältnisse. 

Kein „Klassenkompass“ ohne Klassenanalyse

All diese Interventionen hätten bestimmt noch deutlich mehr mediale Aufmerksamkeit erzielt, wenn sie von denjenigen in der Partei mitgetragen worden wären, die derzeit nicht müde werden, dem Parteivorstand vorzuwerfen, er habe seinen „Klassenkompass verloren“ und würde „darauf verzichten, die Welt der Arbeit zum Bezugspunkt linker Politik zu machen“ (Eifler/Ferschl/Richter 2022). Ulrike Eiflers Vorwurf, dass sich „die gewerkschaftspolitische Orientierung der Partei zumeist darauf beschränkt, Solidarität mit kämpfenden Belegschaften zu bekunden“, ist aber ohnehin unhaltbar. Natürlich muss die Gewerkschaftspolitik der Partei weiter ausgeweitet werden. Warum man all die hier geschilderten Beispiele aber einfach ignorieren sollte, das erschließt sich nicht. 


All die oben genannten Beispiele sind im Übrigen ein Hinweis darauf, dass manche in der Partei kursierende Vorstellung der real existierenden Arbeiter*innenklasse eines kritischen Updates bedarf, wenn die eingeforderte Orientierung am „Klassenkompass“ gelingen soll. Dazu gehört die Einsicht, dass die Arbeiter*innenklasse „vielfältig gespalten ist, entlang beruflicher und generationeller Linien, formaler Bildung, entlang geschlechtlicher, ethno-nationaler und anderer (Selbst-)Zuschreibungen, entlang ihrer Stellung im gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozess“ (Candeias 2021). Damit muss ein Umgang gefunden werden, der nicht darauf hinauslaufen kann, „Differenzen und wichtige Partikularinteressen im Namen der Einheit unter den Tisch zu kehren. Die Linke muss ganz unterschiedliche Segmente der Klasse verbinden. Sie muss immer neu lernen, zu übersetzen. Dies ist die Intention des Konzepts der verbindenden Klassenpolitik.“ (ebd.) Statt diesen Ansatz nun öffentlichkeitswirksam in Frage zu stellen, weil er wenige Jahre nach seiner Einführung in die Debatte noch nicht die erhoffte Wunderheilung der waidwunden Partei bewirkt hat, sollte er endlich konsequent in Angriff genommen werden. Denn nur wenn es der LINKEN gelingt, dieses Konzept in die Praxis umzusetzen, wird sie in den gewerkschaftlichen Kämpfen, die diese vielfältig gespaltene Arbeiter*innenklasse heute führt, als Bündnispartnerin ernst genommen – bei Tesla in Grünheide, bei Amazon in Winsen und in zahllosen ausgegliederten Krankenhausservicegesellschaften. Für abertausende Kolleg*innen aus diesen Belegschaften haben die Ampel-Parteien nur rassistische Vorurteile übrig, das haben ihre Wortbeiträge zu „Clan“- und „Schwimmbadgewalt“ im Sommer 2023 deutlich gemacht. Solange derartige Ausgrenzungen „die Modalität sind, in der Klasse gelebt wird, das Medium, in dem Klassenverhältnisse erfahren, die Form, in der sie angeeignet und durchgekämpft werden“ (Hall 2018), solange ist der laute Widerspruch der Partei DIE LINKE gegen die rassistischen Ausfälle von Nancy Faeser und co. eine klassenpolitische Stellungnahme, die für das Bündnis mit den progressiven Teilen der Gewerkschaftsbewegung unverzichtbar ist.