Der zweimalige US-Präsidentschaftskandidat und US-Senator Bernie Sanders war letzte Woche in Berlin, um sein neues Buch «Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein» vorzustellen. Mit ihm sprach Ingar Solty.

Senator Sanders, Sie haben mit Ihren Präsidentschaftskampagnen 2016 und 2020 Sozialistinnen und Sozialisten rund um die Welt inspiriert und geben den Staffelstab des Sozialismus an eine neue Generation weiter. Ihnen selbst gibt das Hoffnung und es ist eine Quelle für Ihren Optimismus. Aber was hat Sie in der Geschichte des Sozialismus inspiriert?

Ich habe viel gelesen. Ich habe die University of Chicago besucht, eine sehr gute amerikanische Universität. Ich war in den Seminaren nicht so gut. Aber ich habe mich im Keller einer sehr guten Bibliothek vergraben, habe dort viel studiert. Und während ich an der University of Chicago war, habe ich mich in der Bürgerrechtsbewegung sowie ein wenig in der Arbeiterbewegung engagiert, war politisch aktiv. Ich habe also eine Menge gelernt. Und ich würde sagen, dass das dazu beigetragen hat, meine politischen Ansichten zu formen.

Ihre strategische Ausrichtung konzentriert sich auf die multiethnische Arbeiterklasse, um eine Bewegung für Wirtschafts-, Klima-, Geschlechter- und Minderheitengerechtigkeit aufzubauen. In letzter Zeit haben Sie sich intensiv mit der Streikwelle in der Autoindustrie in den USA befasst. Viele Menschen haben sich in ihrer Politik von der Arbeiterbewegung ab- und neuen sozialen Bewegungen aus den Mittelklassen zugewandt. Warum ist die Gewerkschaftsbewegung so wichtig und was kann sie leisten, was an Einzelfragen orientierte Bewegungen nicht können?

Nun, es gibt zwei Realitäten. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Meine Frau kommt aus einer Arbeiterfamilie. Als Kind habe ich in meinem eigenen Leben und im Leben meiner Familie die Auswirkungen und den Stress gesehen, den Geldmangel mit sich bringt. Ich könnte Ihnen nun eine lange dreistündige Rede halten, wie dies das Leben der Menschen prägt. Es hat einen enormen Einfluss auf das Leben, wenn man jeden Tag um das Nötigste kämpfen muss. Das muss aber nicht so sein. Es muss wirklich nicht sein. Wir können eine Gesellschaft schaffen, in der alle Menschen einen anständigen Lebensstandard haben. Das ist nicht utopisch, sondern absolut machbar und praktisch umsetzbar. In einer Familie aufwachsend, die nicht viel Geld hatte, wurde mir bald klar, dass es den meisten Familien ähnlich geht. Moralisch betrachtet: Wie kann man diese Realität ausblenden? Hinzu kommt, dass aus politischer Sicht die einfache Arithmetik besagt, dass die Arbeiterklasse die Mehrheit der Bevölkerung darstellt. Wie kann man also Wahlen gewinnen, ohne die Interessen der Arbeiterklasse zu adressieren, sie einzubeziehen und auf sie einzugehen? Das leuchtet mir nicht ein. Jede Politikerin und jeder Politiker muss also mit der Mehrheit der Menschen, der amerikanischen Arbeiterklasse, sprechen. Nur leider haben die Demokratinnen und Demokraten diese einfache Lektion seit vielen Jahren vergessen.

Wir können eine Gesellschaft schaffen, in der alle Menschen einen anständigen Lebensstandard haben. Das ist nicht utopisch, sondern absolut machbar und praktisch umsetzbar.

Manche Linke haben sich in den letzten Jahrzehnten von der Arbeiterklasse abgewandt, weil sie dachten, dass sie integriert ist, bzw. sie heute nicht wählen geht oder, wenn doch, dann oft rechts. Aber verfügt sie über eine besondere Macht, über die andere soziale Bewegungen nicht verfügen?

Transformationsmacht, allein durch ihre schiere Größe. Es sind Menschen aus der Arbeiterklasse, die zusammen für eine fortschrittliche Agenda kämpfen können. Mit ihnen können wir Amerika und die Welt verändern. Denn sie ist die Mehrheit. Die meisten Menschen gehören nicht zur oberen Mittelklasse. Die meisten Menschen gehören zur arbeitenden Mittelklasse, zur Arbeiterklasse mit all ihren Problemen und Nöten im Alltag. Wenn wir diese Menschen zusammenbringen können, dann liegt dort die politische Macht. Und wie Sie gesagt haben: Ich widme dem Wachstum der Gewerkschaftsbewegung in Amerika viel Aufmerksamkeit, und es macht mich optimistisch.

Einige Linke in Deutschland und Europa haben aus der Abwanderung von Arbeiterwählerinnen und Arbeiterwählern nach rechts den Schluss gezogen, dass man sie zurückgewinnen sollte, indem man mehr über Kriminalität, über Migration usw. und die damit verbundenen Probleme spricht. Ihre Kampagnen dagegen waren nie spaltend. Sie haben sich immer an der multiethnischen Arbeiterklasse orientiert. Was würden Sie besagten Linken in Europa sagen?

Sehen Sie, viele Arbeiterinnen und Arbeiter denken sich: «Ich habe jetzt so lange gearbeitet, um einen anständigen Lebensstandard zu erreichen.» Sie wollen gute Arbeitsplätze. Sie wollen soziale Sicherheit. Wie ich in vielen meiner Reden in letzter Zeit erwähnt habe, werden die Arbeitsplätze, die viele von uns heute haben, in 10, 20 Jahren nicht mehr existieren. Das verursacht massive Ängste: Welche Art von Arbeit wird es noch geben? Was wird aus mir? Werde ich meine Familie ernähren können? Oder wird ein Roboter oder Künstliche Intelligenz meine Arbeit ersetzen? Wer wird darüber entscheiden? Was wir also tun müssen, wenn wir eine lebendige Demokratie schaffen wollen – und das wird nicht einfach, ich glaube nicht für eine Sekunde, dass es einfach wird –, ist, die Menschen in die Diskussion und Entscheidungen einzubeziehen, zu hören, was ihnen auf dem Herzen liegt, welche Sorgen sie haben und welche Ideen sie für die Zukunft haben. Ich zweifle nicht daran, dass wir in Amerika in der Lage sind, Menschen aus der Arbeiterklasse, egal, ob es Weiße, Schwarze oder asiatische Amerikaner*innen sind, wen auch immer, für eine fortschrittliche Agenda zusammenzubringen.

In Ihrem neuen Buch «Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein» argumentieren Sie, dass der Erfolg der extremen Rechten daraus resultiert, dass sie die Wut und Entfremdung der Arbeiterklasse anspricht, sie dann aber gegen Minderheiten, Einwander*innen usw. ablenkt. Wir wissen, dass der Faschismus gedeiht, wenn die Krise des Kapitalismus so schlimm und die Situation so unhaltbar geworden ist, aber die Linke keine alternativen Wege aus der Krise aufzeigen kann, bei der alle mitgenommen werden. Was ist also die beste Strategie, um die Arbeiterinnen und Arbeiter und Menschen davon zu überzeugen, dass es einen Weg aus der Krise gibt, bei dem das Leben für alle besser wird?

Man kann das heute schon ein wenig anhand des Streiks der United Automobile Workers in den Vereinigten Staaten sehen. Was die Gewerkschaftsführung dort macht – und meine Wahrnehmung ist, dass sie das sehr gut macht –, ist, dass sie den Arbeiterinnen und Arbeitern in der Automobilindustrie und den amerikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern im Allgemeinen sagt, dass sie es in ihrem Kampf gerade mit der Gier der Konzerne aufnehmen. Sie haben Recht: Wenn die Verhältnisse wirtschaftlich desintegrieren, wenn die Angst zunimmt, werden die Menschen nervös und sie wollen Lösungen. Die Rechten bieten Lösungen. Diese sind jedoch falsch und hässlich und grausam und unehrlich. Die Rechten machen die Migrantinnen und Migranten für alle Probleme verantwortlich, die Homosexuellen, die Schwarzen, jede Minderheit. Das haben Demagoginnen und Demagogen immer schon so gemacht, auch gegen Jüdinnen und Juden. Die Linke muss die Menschen aufklären und organisieren: Warum habt ihr ökonomisch so zu kämpfen? Warum zahlen die Reichen nicht ihren gerechten Anteil an Steuern? Und das müssen wir geduldig, aber wirksam tun, um die Menschen zusammenzubringen und um dann aufzuzeigen, wo wir hinwollen. Was ist unsere Antwort auf die Künstliche Intelligenz? Wird darüber in Europa viel diskutiert?

Ich zweifle nicht daran, dass wir in Amerika in der Lage sind, Menschen aus der Arbeiterklasse, egal, ob es Weiße, Schwarze oder asiatische Amerikaner*innen sind, wen auch immer, für eine fortschrittliche Agenda zusammenzubringen.

Schon, aber die Diskussionen sind in der angelsächsischen Linken weiter fortgeschritten, würde ich sagen. Das knüpft gut an meine nächste Frage an: Ich würde gerne über den Sozialismus sprechen. Während Ihrer Buchvorstellung im «Haus der Kulturen der Welt» in Berlin sagten Sie, wir müssten den Kapitalismus zähmen und ihn zugleich durch eine demokratisch-sozialistische Alternative ersetzen. Wie sähe diese aus?

Ich habe keine fertigen Antworten in der Tasche, aber ja, das ist die Diskussion, die wir führen. Was bedeutet demokratischer Sozialismus, was sind seine Bestandteile? Zunächst einmal bedeutet es, dass wir diese massive Einkommens- und Vermögensungleichheit, die derzeit besteht, beenden müssen. Und ich denke, das ist ein Thema, über das in Amerika nicht gesprochen wird, und ich bezweifle, dass in Europa auch nur annähernd genug getan wird. Das ist erstaunlich, denn seit der Corona-Krise, hat die Welt, der gesamte Globus, in den letzten Jahren 42 Billionen US-Dollar an neuem Reichtum geschaffen. Zwei Drittel dieses Reichtums, 26 Billionen Dollar, sind an die obersten 1 Prozent gegangen. Das ist eine außergewöhnliche Tatsache. In Amerika besitzen drei Einzelpersonen so viel Vermögen wie die untere Hälfte der amerikanischen Gesellschaft zusammen. Die obersten 1 Prozent haben es in der Geschichte der Welt noch nie so gutgehabt. Das ist also ein Bereich, woran wir arbeiten müssen. Und dann ist die Frage: Wie schafft man eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft? Was bedeutet das? Es bedeutet nicht nur das Recht, alle vier Jahre zu wählen. Es bedeutet auch: Wie viel Kontrolle haben wir über unsere eigene Arbeit, am Arbeitsplatz? Gehen wir einfach zur Arbeit und bekommen unsere Gehaltsabrechnung, haben aber keine Macht über das, was wir tagtäglich tun? Das ist doch entmenschlichend. Ich denke, wir müssen in diesen Fragen konsequent sein und klare Antworten geben, auch wenn es nicht einfach ist: Wie bekommen Arbeiterinnen und Arbeiter mehr Selbstbestimmung und Macht über ihre eigene Arbeit, die diese dann menschlicher macht? Es gibt in Amerika und sicherlich auch in Europa Millionen von Menschen, die morgens aufwachen und denken: «Verflucht, ich muss zur Arbeit!», richtig? Sie hassen ihre Jobs und manchmal macht die Arbeit sie krank, buchstäblich krank. «Aber ich muss ja zur Arbeit, ich muss ja meine Familie ernähren, ich brauche das Geld.»

Ja, das ist seit einigen hundert Jahren das System.

Es ist an der Zeit, dieses System zu ändern. Kann man die Wirtschaft so gestalten, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter selbstbestimmter Teil des Prozesses sind, Entscheidungen treffen und ihre Arbeit gerne machen? Auch in meinem kleinen Bundesstaat Vermont gibt es dafür Beispiele. Es gibt hier eine Reihe von Unternehmen, die im Besitz der Arbeiterinnen und Arbeiter sind oder wenigstens von den Beschäftigten selbst geführt werden. Man kann dort schon, wenn man zur Tür hereinkommt, ein ganz anderes Lebensgefühl spüren. Die Menschen fühlen sich bei ihrer Arbeit sehr viel wohler. Das ist etwas, das radikal ausgeweitet gehört. Schließlich brauchen wir auch ein anderes Bildungssystem. Wir brauchen keine hierarchische Bildung. Wir brauchen eine Bildung ohne Zugangsbeschränkungen, in der auch junge Menschen mehr zu sagen haben. Auch dafür gibt es Ansätze. Ich habe nicht alle Antworten. Es geht darum, die Diskussion zu führen: Was bedeutet Demokratie? Ich bin mir verdammt sicher, dass Demokratie mehr bedeutet als nur alle vier Jahre irgendwo ein Kreuzchen zu machen. Erst recht in Amerika, wo man oft nur zwischen Kandidatinnen und Kandidaten entscheidet, die von sehr reichen Leuten finanziert wurden. Es ist das Jahr 2023. Wir können das besser.

In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass Künstliche Intelligenz ein Fluch sein wird, solange sie ein Prozess ist, der unter dem Eigentum und der Kontrolle der kapitalistischen Klasse stattfindet, aber dass sie unter Arbeiterkontrolle auch ein Segen sein kann im Sinne von verkürzter Arbeitszeit und größerem Wohlstand zugleich.

Man muss kein Marxist sein, um zu verstehen, dass die Menschen in der Geschichte immer gekämpft haben. Das ist selbstverständlich. Wir müssen arbeiten, um Geld zu verdienen. Aber Künstliche Intelligenz und Robotik können die menschliche Gesellschaft radikal verändern und enormen Wohlstand schaffen. Die Frage ist nur: Wer profitiert davon? Wenn es nun also eine Maschine gibt, die zukünftig deine Arbeit macht. Diese Maschine kann dazu dienen, dir deine Wochenarbeitszeit zu verkürzen, für mehr freie Zeit, Zeit für Kultur, Zeit für die Familie, für alles Mögliche. Maschinen können das Leben verbessern. Das ist eine gute Sache. Es ist aber etwas Anderes, wenn man dich mit der Maschine einfach auf die Straße wirft oder dich zum Anhängsel dieser Maschine macht. Die große Frage, die die Leute beschäftigt, ist: Werden die Maschinen am Ende die Menschen kontrollieren? Werden die Maschinen und die Künstliche Intelligenz intelligenter sein als Menschen? Auch hier geht es um Gier.

Man muss kein Marxist sein, um zu verstehen, dass die Menschen in der Geschichte immer gekämpft haben. Das ist selbstverständlich.

Was ist also die Strategie? Wie können wir sicherstellen, dass die Technologien die Menschen befreien und nicht versklaven?

Nun, es ist der gleiche alte Kampf. Es ist ein Kampf um die Macht in den Konzernen. Er ist jetzt gerade im Gange: «Es tut mir leid, aber dein Job macht jetzt ein Roboter.» «Aber was wird aus mir?» «Tut mir leid, du bist entlassen, tschüss!» Das muss nicht so sein. Das geht anders. Das ist also der große politische Kampf, den wir führen. Es geht darum: Technologie ist etwas Gutes, wenn man sie kontrolliert, damit sie den Menschen dient. Das ist ein wichtiger politischer Kampf, bei dem es im Kern darum geht: Technologie kann gut sein, wenn sie zum Nutzen der Menschen kontrolliert wird. Das muss im Zentrum der politischen Diskussion stehen, die wir führen.

Vor wenigen Tagen hatte ich Besuch von Bhaskar Sunkara, dem Chefredakteur von The Nation/Jacobin, und wir sprachen auch über Ihre Kampagne und über die Wahrscheinlichkeiten einer Nominierung und dann möglicherweise einer Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten. In 2020 war das alles sehr greifbar. Zugleich sprechen Sie immer von der Oligarchie und der organisierten, auch medialen Macht der kapitalistischen Klasse. Wie sehr waren Sie darauf vorbereitet? Welche Vorbereitungen hatten Sie eigentlich für den Tag einer Präsidentschaft und die schieren Angriffe, denen Sie dann ausgesetzt gewesen wären, getroffen?

Auf der einen Seite wussten wir natürlich, was passieren würde. Wir wussten, dass wir es mit dem Medien-Establishment, dem wirtschaftlichen Establishment und dem politischen Establishment aufnahmen. Verstehen Sie? Das wussten wir. Was wir aber sehr früh, also 2015/2016, gezeigt haben – und das war sehr wichtig – ist, dass es bis dahin den Mythos gab, die Vorstellung, dass das amerikanische Volk mit dem Establishment, mit dem Status quo zufrieden ist. Dass die Bevölkerung mit der Status-Quo-Politik einverstanden ist. Und dann kamen wir und sagten: «Sorry, aber das stimmt doch überhaupt gar nicht.» Ganz sicher galt das nicht für die jungen Leute; und viele Menschen aus der Arbeiterklasse wollten eine transformative Politik. 2020 waren wir dann besser darauf vorbereitet, es mit allen Pfeilern des Establishments aufzunehmen. Wir haben die ersten drei Vorwahlen in Iowa, New Hampshire und Nevada gewonnen. In South Carolina haben wir verloren. Und zu diesem Zeitpunkt, kurz vor dem Super Tuesday, dem Tag, an dem in vielen Bundesstaaten Vorwahlen stattfinden, hat das Establishment sehr deutlich gemacht, dass sie Kandidatinnen und Kandidaten ausschließen und sich um Biden scharen wollen. Das ist also die Realität, mit der wir konfrontiert waren.

Gesetzt den Fall, dass das Establishment der Demokratischen Partei Ihre Kampagne nicht auf diese Weise torpediert hätte, wie 2020 oder 2016 mit Debbie Wasserman Schultz. Wie hätte Ihr Programm für die ersten 100 Tage als Präsident der Vereinigten Staaten ausgesehen?

Richtig, die ersten 100 Tage wären entscheidend gewesen. Die Leute haben Worte ohne Taten satt. Das Programm wäre gewesen, sehr mutig zu handeln, um jeder Amerikanerin und jedem Amerikaner eine Gesundheitsversorgung zu garantieren. Aus einer Reihe von Gründen denke ich, dass es einfacher gewesen wäre, uns dem kanadischen und nicht den europäischen Systemen anzunähern. Aber wir hätten Gesundheit als ein Recht garantiert und kostenlos gemacht. Wir hätten versucht, die Kosten von Medikamenten in den USA zu halbieren. Wir hätten die Studiengebühren für alle öffentlichen Hochschulen und Universitäten abgeschafft. Wir hätten die Steuern auf die großen Konzerne und die Reichen substanziell erhöht. Wir hätten riesige Anstrengungen unternommen, um Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, um unser Wirtschaftssystem von fossilen auf regenerative Energien umzustellen. Wir hätten die Ausgaben für die öffentliche Versorgung mit Kitas und Kindergärten verdoppelt. Die USA sind durch viele, viele, tief verankerte Systemkrisen gekennzeichnet. Auf diese hätten wir uns in den ersten 100 Tagen konzentriert.

Senator Sanders, Sie kandidieren 2024 nicht noch einmal. Sie unterstützen Joe Biden, um gemeinsam Trump und die Rechte zu schlagen. Sie haben auch darauf hingewiesen, welchen realen Fortschritt «Build Back Better» für die Arbeiterklasse hätte haben können und in Teilen auch hatte.

Sie fragten nach meinen ersten 100 Tagen. «Build Back Better» beinhaltete manches davon, ja.

Gleichzeitig kritisieren Sie aber auch das Demokraten-Establishment dafür, dass es vor der Macht der Milliardärsklasse kapituliert und das Leiden der Arbeiterklasse nicht sieht, das den Aufstieg der Rechten befördert. Wie gehen Sie damit in ihrer alltäglichen Politik um: Auf der einen Seite das Herausstellen und Herausarbeiten eines dritten Pols für den demokratischen Sozialismus, aber auf der anderen Seite die Zusammenarbeit mit und durch die Demokratinnen und Demokraten?

Mit großer innerer Unruhe und Schmerz. Es ist kein leichter Prozess. Aber das ist mein Job. Mein Job ist der eines Senators im US-Kongress. Mein Job ist es, das Beste für die Menschen in Vermont herauszuholen. Wir arbeiten heute an einer Reihe von wichtigen Fragen für Vermont. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass reale Veränderungen, die dringend nötigen Veränderungen in Amerika, nicht ohne eine mächtige Graswurzelbewegung entstehen werden. Aus diesem Grund widme ich einen Großteil meiner Zeit dem Aufbau dieser Bewegung. Und ich denke, wir sehen heute – nicht nur ich, sondern auch viele andere Linke tun das – diese Bewegung im Wachstum der Gewerkschaftsbewegung. Viele der Ideen, über die die Arbeiterinnen und Arbeiter sprechen, sind Ideen, über die ich viele Jahre lang gesprochen habe. Da entsteht etwas Neues. Aber ich lebe in zwei Welten. Ich bin ein Senator. Ich muss meinen Job machen. Dafür bekomme ich mein Geld. Gleichzeitig muss ich eben auch hart dafür arbeiten, zum Wachstum einer politischen Bewegung beizutragen, die die umwälzenden Veränderungen hervorbringt, die das Land braucht.

Senator Sanders, Sie sind schon seit sechs Jahrzehnten demokratischer Sozialist. Mehr als vier Jahrzehnte ihres politischen Lebens sind geprägt von der neoliberalen Konterrevolution gegen die Errungenschaften, die die Arbeiterklasse während des New Deal erzielte. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die inflationsbereinigten Reallöhne der Arbeiterinnen und Arbeiter trotz gigantischer Produktivitätsfortschritte heute niedriger sind als vor 50 Jahren. Sie kennen ja wahrscheinlich das berühmte Zitat von Bertolt Brecht über die Schwachen, die nicht kämpfen, und die Stärksten, die ihr Leben lang kämpfen und unentbehrlich sind. Wie kämpft man sein ganzes Leben lang? Und wie bleibt man dabei, so wie Sie es vermochten, so heiter und unbeschwert?

Nun, man tut, was man kann. Ich hatte in meinem Leben das große Glück, dass die Bevölkerung von Vermont es mir ermöglicht hat, nach Washington zu gehen und sie zu repräsentieren, dass sie es mir erlaubt hat, die Schlachten zu schlagen, die ich geschlagen habe. Das ist ein Privileg. Ich bin sehr stolz, dass ich diese Chance bekommen habe, und ich nehme die damit verbundene Verantwortung sehr ernst. Als Mitglied des US-Senats bin ich in einer Position, die viele andere starke Linke nicht haben. Das heißt, ich werde meine Macht und meine Bekanntheit bestmöglich einsetzen, um eine demokratische – mit einem kleinen «d» –, eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in der wir alle zusammen dafür sorgen, dass alle Menschen ein gutes Leben haben, in der wir die Klimafrage lösen und in der wir echte Demokratie, wirtschaftliche Demokratie haben. Kurz, ich hatte Glück. Für mich ist das kein Job. Es ist ein Privileg, in der Position zu sein, in der ich bin, und die Arbeit tun zu können, die ich tue, und dabei so viele großartige Menschen in Amerika und überall auf der Welt kennenzulernen.

Senator Sanders, vielen herzlichen Dank für ihren lebenslangen Kampf und dieses Interview.

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