Die scharfen Spaltungen, die die russische Invasion in der ukrainischen und außerukrainischen Linken verursacht hat, sind nur durch eine Auseinandersetzung mit dem tiefgreifenden Klassenkonflikt zu verstehen, der dem Krieg zugrunde liegt. Dieser Konflikt zieht sich durch die gesamte postsowjetische Welt und zeichnet sich aus durch einen Antagonismus zwischen der meist etwas unpräzise als »Oligarchen« bezeichneten Klasse politischer Kapitalist*innen und einer berufstätigen Mittelschicht, die die Interessen des transnationalen Kapitals unter US-Hegemonie vertritt. In der Ukraine drückte sich dieser Konflikt in der berüchtigten »regionalen« politischen Spaltung in ein »östliches« und ein »westliches« Lager aus. Diese Spaltung wurde häufig und auf eher oberflächliche Weise auf ethnolinguistische oder kulturelle Unterschiede zwischen der Südostukraine einerseits und der West- und Zentralukraine andererseits zurückgeführt, oder aber man tat sie als bloßen Auswuchs der Manipulationsversuche konkurrierender, auf die Festigung der eigenen Legitimität bedachter Eliten ab. Übersehen wurde dabei die grundlegende Asymmetrie der beiden Lager bezüglich der zugrunde liegenden Klassenbündnisse und deren politischer Strahlkraft.

Das »westliche« Lager setzte sich für eine dem Modell eines Kompradorenstaats entsprechende Integration der Ukraine in die westliche Peripherie ein. Von einer solchen Entwicklung hätte vor allem die berufstätige Mittelschicht profitiert. Für weite Teile der herrschenden Klasse der politischen Kapitalist*innen war dieses Szenario ein bedrohliches. Darüber hinaus hätte es die Marginalisierung bedeutender Segmente der ukrainischen Arbeiterklasse beinhaltet. Das »östliche«, auf irreführende Weise auch als »prorussisch« bezeichnete Lager hatte dem außer der »Stabilität« postsowjetischer Stagnation nicht viel entgegenzuhalten. Hinzu kam, dass das »westliche« Lager die Unterstützung einer kleinen aber einflussreichen Zivilgesellschaft genoss, die aus (neo)liberalen Nichtregierungsorganisationen sowie radikalnationalistischen Parteien und paramilitärischen Gruppen bestand, denen insbesondere die Euromaidan-Revolution Auftrieb verschafft hatte. Die das »östliche« Lager unterstützende Zivilgesellschaft war deutlich schwächer als ihr »westliches« Gegenstück. Die russische Invasion selbst kann als Ergebnis einer Eskalation jener tiefgreifenden postsowjetischen Hegemoniekrise angesehen werden, in der sich die Unfähigkeit der Klasse der politischen Kapitalist*innen zeigte, eine umfassende Entwicklungsagenda vorzulegen. Die Invasion kann aber zugleich auch auf Defizite der Maidan-Revolutionen zurückgeführt werden, denn diese stärkten die nationalistischen und auf der Mittelschicht fußenden Zivilgesellschaften und deren unpopuläres Programm, was die Krise verstetigte und verstärkte. Putin beschloss, den Mangel an nichtmilitärischem Einfluss (soft power), mit dem sich die herrschende Klasse Russlands in der Ukraine konfrontiert sah, durch militärische Gewalt zu kompensieren. Er setzte auf einen schnellen Eingriff, durch den der ukrainische Staat unter Einsatz begrenzter militärischer Mittel enthauptet werden sollte. Dabei überschätzte Putin die destabilisierende Wirkung reeller Krisentendenzen innerhalb der ukrainischen Politik und Gesellschaft. Zugleich unterschätzte er den schlechten Zustand des russischen Militärs sowie dessen Folgen für die Fähigkeit seiner Streitkräfte zur Planung und Durchführung eines komplexen, mit hohen Risiken verbundenen Einsatzes.

Die Interessen der Arbeiterklasse wurden im postsowjetischen Klassenkonflikts weder unabhängig artikuliert noch politisch repräsentiert. Das »östliche« Lager stützte sich auf breite Segmente der Arbeiterklasse aus der Schwerindustrie sowie aus dem öffentlichen Sektor. Außerdem stützte es sich auf Gruppen, die auf öffentliche Wohlfahrtsleistungen angewiesen waren, etwa Rentner*innen. Diese Gruppen legten Wert auf eine gewisse Stabilität der traditionellen Handelsverhältnisse mit Russland sowie auf begrenzte, aber zuverlässige staatliche Hilfe, blieben dabei jedoch politisch passive und atomisierte Wähler*innen. Dagegen unterstützten die an westlichen Märkten ausgerichteten Segmente der Arbeiterklasse das »westliche« Lager. Das waren in erster Linie Wanderarbeiter*innen oder Berufstätige, die sich durch das Outsourcing beispielsweise von Informatik-Jobs an westliches Kapital gebunden sahen. Die ukrainische Linke war nicht im Stande, die Interessen der Arbeiterklasse zu repräsentieren und ist es auch heute nicht.

Erstarrte Altlinke und zersplitterte Neue Linke 

Während eines Großteils der postsowjetischen Geschichte der Ukraine deckte sich die politisch relevante Linke des Landes im Grunde mit den Nachfolgeparteien der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Diese Parteien waren während der 1990er Jahre die populärsten und konnten sich erfolgreich einigen neoliberalen Reformen und autoritären Tendenzen in den Weg stellen. Bis zum Jahr 2014 war jedoch nur noch eine solche linke Kraft im ukrainischen Parlament vertreten, die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU). Ein Jahr vor der Euromaidan-Revolution erhielt die KPU 13 Prozent der Stimmen und zählte über 100.000 Mitglieder, um dann 2015 mit einem De-facto-Verbot belegt zu werden. Im Grunde agierte die im Gefolge der KPdSU entstandene Linke eher als radikaler, stärker ideologisch und militant geprägter Flügel des »östlichen« Lagers denn als genuine politische Vertretung der Arbeiterklasse. Hinzu kam noch, dass der Einfluss dieser Linken aus Gründen, die teils mit dem »östlichen« Lager im Allgemeinen und teils mit der KPU im Besonderen zu tun hatten, im Schwinden begriffen war. Dieser Einflussverlust erfolgte zeitgleich mit dem Aufstieg rechtsextremer Nationalist*innen, die als radikaler Flügel des »westlichen« Lagers agierten. Der unabsetzbare Petro Symonenko, der den Vorsitz der KPU seit ihrer Neugründung im Jahr 1993 innehatte, führte die Partei mit eiserner Hand, zerschlug systematisch die interne Opposition und verhinderte jegliche Modernisierung und Radikalisierung, wie sie insbesondere in dem für die KPU ungünstigen Klima nach der Euromaidan-Revolution erforderlich gewesen wären.

Die jüngere »Neue Linke«, die in der Regel versuchte, sich von den Nachfolgeparteien der KPdSU zu distanzieren, ist ein viel kleineres, zersplittertes und lose organisiertes Milieu sich ständig spaltender und neu zusammensetzender Kleinstorganisationen und informeller Netzwerke, das selbst am Höhepunkt seiner Entwicklung zu Beginn der 2010er Jahre landesweit nie mehr als tausend Aktivist*innen zählte. Die Neue Linke arbeitete in einigen Fällen dauerhaft mit einzelnen Führungspersonen aus der Arbeiterbewegung und lokalen Gewerkschaften zusammen. Allerdings war die Arbeiterbewegung nach Jahrzehnten postsowjetischen wirtschaftlichen Niedergangs, der anhaltenden Vorherrschaft klientelistischer Beziehungen in der Industrie und geringer Streiktätigkeit ihrerseits schwach. Die Neue Linke war schlichtweg zu klein, um irgendwen öffentlich oder politisch zu repräsentieren, und als Zusammenschluss zu lose, um eine kohärente Strategie zu verfolgen. Im Ergebnis fungierte die Neue Linke als Teil jenes kleinen linksliberalen Flügels der »westlichen« mittelständischen Zivilgesellschaft, der die kulturell progressiven und auf begrenzte Umverteilung hinauslaufenden Aspekte der europäischen Integration zu stärken versuchte, dabei aber kein besonderes Interesse an den revolutionären oder antikapitalistischen Zielsetzungen der radikalen Linken zeigte.

Kruschki und neosowjetisches Revival

Ein besonderer, sowohl mit der »alten« als auch mit der »Neuen« Linken interagierender Bestandteil des postsowjetischen Milieus in der Ukraine und anderswo waren schließlich die marxistisch-leninistischen »Zirkel« (kruschki). In diesen sich als Keimzellen neuer Parteien verstehenden Lesekreisen kam eine Vielzahl von Tendenzen zum Ausdruck. Einige Zirkel standen in der Kontinuität renommierter kritischer Marxist*innen der Sowjetära wie Ewald Iljenkow, andere widmeten sich einer neuen Lesart klassischer marxistischer Texte. Ähnlich wie im Fall der Neuen Linken handelte es sich um kleine Gruppen von Aktivist*innen, allerdings waren diese ideologisch kohärent und eher zu systematischer Arbeit fähig. Ihr Alleinstellungsmerkmal war ihre Symbiose mit einem kulturellen Phänomen, das sich als neosowjetisches Revival bezeichnen lässt. Dieses äußerte sich vor allem in den 2010er Jahren im künstlerischen Schaffen und der Freizeitbetätigung sowie der Identität, der Sprache und den politischen Einstellungen vieler postsowjetischer Jugendlicher und brach dabei deutlich mit dem nostalgischen Verhältnis zur Sowjetunion, das in den 1990er Jahren ein Merkmal älterer Bevölkerungsgruppen gewesen war. Die marxistischen Zirkel wussten die neuen sozialen Medien wirksam zu nutzen, und dies erleichterte es ihnen, eine beträchtliche Anzahl von Online-Anhänger*innen zu gewinnen: in den erfolgreichsten Fällen Hunderttausende oder sogar Millionen von Nutzer*innen des russischsprachigen Internets, Runet. Die Ukraine war nicht immun gegen diese kulturell-politische Strömung, und das trotz der Entkommunisierungspolitik im Gefolge des Euromaidan und nationalistischen wie repressiven Tendenzen. Die marxistischen Zirkel waren weitsichtig genug, ihre Aktivitäten beizeiten in den Untergrund zu verlagern und konnten von den neuen Dynamiken im kollektiven Bewusstsein jener Segmente der unterprivilegierten städtischen Jugend profitieren, denen die Euromaidan-Revolution keine attraktiven Aussichten bot.

KPU-Verbot und Flucht Symonenkos ins Exil

Die Positionierung der ukrainischen Linken im postsowjetischen Klassenkonflikt – ihre Unfähigkeit zu einer wirksamen Vertretung der unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse sowie zu relevantem politischen Handeln – prägten weitgehend ihre Reaktionen auf den Krieg mit Russland. Besonders eklatant war das Verhalten des Anfang März 2022 ins belarussische Exil gegangenen KPU-Vorsitzenden Petro Symonenko, der sich mit seiner Partei uneingeschränkt für die Invasion aussprach und die Kiewer Regierung als »faschistisches Regime« denunzierte. Wie viele Parteimitglieder in der Ukraine verblieben sind, ist ungewiss. Seit der im Gefolge der Euromaidan-Revolution einsetzenden Repression der Partei hat das Engagement vieler jüngerer Mitglieder nachgelassen, und viele sind aus der KPU ausgetreten. Darüber hinaus hat die Partei ihre stärksten und militantesten Organisationen an die annektierte Krim und den sezessionistischen Donbass verloren. Die älteren Kernmitglieder legten jedoch ungebrochene Loyalität zu einer Partei an den Tag, der sie bereits den Großteil ihres Lebens angehört hatten. Unbestätigte Schätzungen aus dem Jahr 2016 ließen auf eine landesweite Mitgliederzahl von etwa 50 000 schließen. Der ins Exil gegangene Symonenko ist seit Beginn der Invasion durch keine alternative Führungsperson ersetzt worden, was nach einer drei Jahrzehnte währenden Ausschaltung jeglicher parteiinternen Opposition nicht allzu sehr überrascht.

Wichtig ist, dass sich die Position der KPU stark vorherrschenden Reaktionen des »östlichen« Lagers abhob. Als das Scheitern des ursprünglichen russischen Invasionsplans nach einigen Tagen deutlich wurde, beschloss die überwältigende Mehrheit der »östlichen« Eliten – darunter Politiker*innen, Lokalbeamt*innen, politische Kapitalist*innen sowie die Medien –, die Invasion nicht zu unterstützen und sich vielmehr hinter die Ukraine zu stellen. Insofern wir uns auf Umfragen in Kriegszeiten verlassen können, scheinen die Wähler*innen dieser Eliten es ihnen gleichgetan zu haben. Dies war jedoch zumindest ursprünglich kein ideologischer Wandel hin zu einer »prowestlichen« Identität. Vielmehr handelte es sich lediglich um die opportunistische Reaktion einer im Großen und Ganzen unideologischen Elite und einer überwiegend entpolitisierten und verwirrten Bürgerschaft, ausgelöst durch eine unmittelbare Bedrohung von Leben, Familie, Häusern und Eigentum sowie dem drohenden Verlust in westlichen Ländern gelegener Vermögensgegenstände.

Die KPU reagierte anders, gerade weil sie innerhalb ihres Lagers eine radikale Fraktion darstellte, die sich durch eine konsequentere, prorussische ideologische Position auszeichnete und sich seit 2014 einer intensiven Repression ausgesetzt gesehen hatte. Die Partei war mit einer Reihe von Angriffen konfrontiert, von Brandanschlägen auf ihre Räumlichkeiten und der Demütigung und Verhaftung prominenter Mitglieder über gewalttätige Attacken auf friedliche Kundgebungen bis hin zu einem gesetzlichen Verbot der Kernidentität und -ideologie der KPU im Zuge der »Entkommunisierung«. Letzteres zog eine formelle Einstellung der Tätigkeit der Partei sowie deren Ausschluss von Wahlen nach sich. Im Jahr 2022 nahm diese Repression weiter zu. Nach der Invasion wurde die KPU endgültig verboten, gemeinsam mit anderen Parteien, die als »prorussisch« galten. Durchsuchungen von Parteibüros und die Verhaftung von Aktivist*innen waren an der Tagesordnung. Bereits für das »Liken« sowjetischer Symbole auf randständigen sozialen Netzwerken wurden Gefängnisstrafen verhängt.

Die KPU eignete sich hervorragend als Sündenbock. Ihre Repression war ein wohlfeiles Mittel, um die Sympathie der nationalistischen Zivilgesellschaft zu gewinnen, ohne ernsthafte Verurteilungen aus dem In- oder Ausland fürchten zu müssen. Zwar unterstützten die meisten Ukrainer*innen die Entkommunisierung nicht, sie protestierten aber auch nicht dagegen. Selbst ehemalige KPU-Wähler*innen wehrten sich nicht aktiv gegen die Repression ihrer Partei und brachten damit die Entpolitisierung und Verwirrung ihres Lagers zum Ausdruck. Die KPU-Führung fügte sich und nahm dabei in Kauf, dass sie als ein leicht zu besiegender Gegner erschien, vermutlich, um eine Konfiszierung des Parteivermögens zu vermeiden. Die Partei integrierte sich jedenfalls in den politischen Kapitalismus. Radikale, die sich gegen die Parteiführung auflehnten, wurden regelmäßig mundtot gemacht. Viele der älteren Mitglieder waren nicht mit digitalen Technologien vertraut und daher nicht in der Lage, klandestine Aktivitäten zu organisieren. Die Wiedergewinnung eines Anscheins von politischer Relevanz konnte die KPU-Führung sich höchstens noch von einem inneren Wandel des »faschistischen Regimes« erhoffen (etwa infolge einer Umsetzung des Minsker Abkommens), oder aber von dessen Sturz durch äußere Kräfte. Als Russland Gebiete im Süden der Ukraine besetzte, feierten viele dortige Kommunist*innen den Machtwechsel, der mit der Wiedererrichtung von Lenin-Denkmälern und der Rückgängigmachung der im Zuge des Euromaidan erfolgten Umbenennung von Straßen und Plätzen einherging. Später traten diese KPU-Anhänger*innen der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) bei und beteiligten sich an den von Russland im September 2023 veranstalteten Lokalwahlen.

Krieg polarisiert die Neue Linke

Viele Mitglieder der Neuen Linken befürworteten die Verteidigung der Ukraine, die sie als einen Fall »nationaler Selbstbestimmung« begriffen und mit »antifaschistischen« und »antiautoritären« Argumenten gegen Putins Russland unterstützten. Ein beträchtlicher Teil dieser Neuen Linken ging noch einen Schritt weiter und stellte sich enthusiastisch hinter die ethnonationalistische Agenda der »Dekolonisierung«, die nationalistische Intellektuelle entwickelt hatten und die auch von einflussreichen Teilen der ukrainischen Elite unterstützt wird. Die Vertreter*innen dieser Agenda packten die Gelegenheit der Invasion beim Schopfe, versuchten das »westliche« Nationenbildungsprojekt voranzubringen und verfolgten dabei das Vorhaben, die vielfältige ukrainische Gesellschaft nach ihrem eigenen Bild und Gleichnis umzugestalten. Einige Mitglieder der Neuen Linken sprachen sich sogar für Maßnahmen aus, die im Falle einer militärischen Wiedereroberung der Krim und des Donbass objektiv auf ethnische Säuberungen hinauslaufen würden. Viele relativierten auch ihre frühere Kritik an der extremen Rechten, etwa an den Soldaten des Asow-Bataillons, die zu Helden der mittelständischen Zivilgesellschaft avancierten.

Andere Mitglieder der Neuen Linken behielten ihre Kritik an nationalistischen Programmatiken bei, wobei sie öffentliche Äußerungen aber oft aus Furcht vor Repression oder Ächtung unterließen. Die Stimmen, die der Rettung ukrainischer Menschenleben, ukrainischer Städte und der ukrainischen Wirtschaft den Vorrang einräumten gegenüber dem Schicksal eines sehr klassenspezifischen Projekts der Selbstbestimmung, blieben eher verhalten. Unter den Bedingungen des Kriegsrechts wurde es für die Neue Linke auch schwierig, ihren gewöhnlichen Aktivismus auf der Straße fortzusetzen.

Stattdessen lancierte die Neue Linke kleinere humanitäre Initiativen. Einige überwiegend dem Anarchismus nahestehende Aktivist*innen schlossen sich dem ukrainischen Militär an und bildeten dort kleine Einheiten, die in der Regel nicht größer waren als ein Zug. Wesentlicheren Einfluss hatte die Neue Linke auf internationale Diskussionen über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine, wie sie in Teilen der linken Öffentlichkeit des Westens geführt werden. Hierbei kamen der Neuen Linken der Bildungsgrad ihrer Mitglieder sowie deren Englischkenntnisse und Beziehungen zu tendenziell linken akademischen Milieus und Medien zugute. Einige Gruppen verlegten sich ganz auf die Förderung internationaler Unterstützung für den militärischen Einsatz der Ukraine.

Im Gegensatz zur prorussischen KPU und der proukrainischen Neuen Linken nahmen die marxistisch-leninistischen Zirkel in der Regel eine revolutionär-defätistische Haltung ein, mit der sie sich gegen die herrschenden Klassen und den Imperialismus beider Kriegsparteien positionierten. Viele distanzierten sich auch kritisch vom »bürgerlichen Pazifismus« jener Angehörigen der russischen und internationalen Linken, die für einen sofortigen Frieden eintraten. Im Grunde bestand die Strategie der Zirkel darin, sich selbst als Untergrundorganisationen durch die schwere, von Krieg, Nationalismus und Antikommunismus gezeichnete Zeit hindurchzuretten und zu stärken. Erstaunlicherweise gelang es ihnen unter diesen Bedingungen, ihre Medienarbeit auszuweiten und online in der Ukraine mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.

Es gibt nahezu keinerlei nennenswerten Dialog zwischen diesen verschiedenen Segmenten der ukrainischen Linken. Gelegentliche kleinere Angriffe einer Gruppe auf die andere(n) bleiben eher die Ausnahme. Grund dafür ist zunächst, dass es keinen gemeinsamen, von den verschiedenen Fraktionen geteilten Verständigungsraum gibt. Viele Kommunist*innen wissen wahrscheinlich noch nicht einmal, dass die Neue Linke existiert. Die kriegsbedingt allgegenwärtigen Polarisierungstendenzen gehen mit der ständigen Gefahr einher, für Meinungen abgestraft zu werden, die entweder vom nationalistischen Konsens der Ukraine oder von der Befürwortung der Invasion in den annektierten Gebieten abweichen. Dies behindert die Herausbildung moderater, zur Vermittlung eines Dialogs befähigter Stimmen. Dass die jeweils andere(n) Fraktion(en) gern mit einer existenziellen Bedrohung in Verbindung gebracht werden, verschärft nur den Zwist. Die Verständigung mit der Linken im Donbass hat sich, sofern es überhaupt zu ihr gekommen ist, auf den Austausch von Anschuldigungen reduziert, sodass die Möglichkeit eines konstruktiven Dialogs in weite Ferne gerückt ist. Darüber hinaus ist für viele auch nicht ersichtlich, welchen praktischen Nutzen ein solcher Dialog haben könnte, sind von ihm doch keine nennenswerten Auswirkungen auf die Innenpolitik zu erwarten. Adressiert wird in den Polemiken um den Krieg in erster Linie die internationale Öffentlichkeit. Versuche, eine vermeintlich geeinte »ukrainische Linke« zu konstruieren und dieser eine ethische und erkenntnistheoretische Überlegenheit gegenüber dem ebenso fragwürdigen Konstrukt einer privilegierten und unwissenden »westlichen Linken« zuzuschreiben, bedingen notwendig den Ausschluss abweichender ukrainischer Meinungen mittels des Hinweises, diese Meinungen seien entweder nicht »ukrainisch« genug oder nicht »links« genug. Auf diese Weise kann es zu keiner ernsthaften Diskussion kommen, der Zyklus der Polarisierung wird verstetigt und ein nennenswerter inhaltlicher Austausch verhindert.

Strategische Dilemmata der internationalen Linken

Die Schwäche der ukrainischen Linken stellt die internationale Linke vor das Problem, in Bezug auf den Krieg eine politisch relevante Strategie zu entwickeln. Es mag besonders »naheliegend« erscheinen, sich vom Geist der Solidarität leiten zu lassen und die eigene politische Position durch den Dialog und die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Kräften in der Ukraine zu entwickeln. Die internationale Linke mag auch in der Lage sein, verfolgte Genoss*innen zu unterstützen und einen Beitrag zu kleinen aber dennoch überlebenswichtigen humanitären Unternehmungen zu leisten. Sie steht aber dennoch vor der bedrückenden Tatsache, dass ihre Unterstützung der ukrainischen Linken innerhalb der Ukraine keinerlei politische Relevanz entfaltet. So läuft die »Unterstützung für die Ukraine« Gefahr, zu einem bloßen Mittel zu werden, um sich selbst, in den Debatten im eigenen Land, als auf der richtigen Seite stehend präsentieren zu können.

Die in der internationalen Linken geführte Diskussion um die überaus dringliche Frage nach Waffenlieferungen zeichnet sich durch eine tiefgreifende Polarisierung aus. Denen, die sich unter Verweis auf die nationale »Selbstbestimmung« für uneingeschränkte Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzen, stehen andere gegenüber, die sich vehement gegen jegliche militärische Unterstützung aussprechen, obgleich doch bestimmte Waffen (etwa zur Luftverteidigung) unerlässlich sind für den Schutz der Zivilbevölkerung sowie kritischer städtischer Infrastrukturen. Dabei ist die linke Debatte vor allem von normativen Positionen geprägt, im Unterschied zu den eher pragmatischen Diskussionen innerhalb der Elite und unter den politischen Entscheidungsträger*innen, die sich mit Einsatzbedingungen, möglichen Eskalationsrisiken und Auswirkungen bestimmter Waffen auf das militärische Kräfteverhältnis befassen.

Es ist einfach, sich auf eine normative Position zu versteifen, wenn es darum geht, die eigene Tugendhaftigkeit zur Schau zu stellen. Doch jede realistisch zu erwartende Lösung des Konflikts wird sich notgedrungen durch eine inhärente normative Ungerechtigkeit auszeichnen, was eine Vielzahl von Menschen innerhalb und außerhalb der Ukraine in eine wenig beneidenswerte Lage versetzt. Anstatt selektiv »ukrainische Stimmen« ins Spiel zu bringen, wann immer es der Stärkung der eigenen normativen Position zu dienen scheint, sollte eine Erweiterung und Bereicherung der Debatte durch Aufgreifen der Erkenntnisse unabhängiger Militär- und Wirtschaftsexpert*innen angestrebt werden. Jede ernsthafte und verantwortungsvolle Diskussion um einen möglichen Frieden wird sich auf Fragen wie die reduzieren, ob die Bereitstellung von F-16-Kampfjets oder eines anderen neuen Waffentyps die gegenwärtige militärische Pattsituation beenden kann oder aber eine neue Eskalationsspirale einzuleiten droht, ob Wirtschaftssanktionen den russischen Militärapparat mittelfristig in die Knie zwingen können und ob die westliche Unterstützung der Ukraine bereits demnächst oder erst in fernerer Zukunft an Grenzen stoßen wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, sich daran zu erinnern, dass es hier um weit mehr geht als nur um politische Posen. Die aus den Antworten auf die genannten Fragen erwachsenden Entscheidungen werden sich auf Millionen ukrainischer und russischer Menschen auswirken, im Fall eines Atomkriegs sogar auf die gesamte Menschheit.

Jenseits der dringlichen Debatten um militärische Entwicklungen sollte sich eine strategisch ausgerichtete linke Politik auch mit der Frage nach der Zukunft der Ukraine, Russlands und der internationalen Ordnung der Nachkriegszeit befassen. Was die Zukunft der Ukraine angeht, so drehen sich die Diskussionen vor allem um die Möglichkeit eines »schrittweisen Wiederaufbaus«. Darin wird eine Alternative zu Wiederaufbauplänen gesehen, die vor allem ausländische Privatinvestoren begünstigen. Solche Wiederaufbaupläne nehmen unter Beteiligung einflussreicher Unternehmen wie Blackrock und JPMorgan bereits Gestalt an und würden wahrscheinlich eine großmaßstäbliche Aneignung ukrainischer Ländereien und Rohstoffe beinhalten. Die Umsetzbarkeit eines jeglichen Wiederaufbauvorhabens hängt weitgehend vom Endergebnis des Krieges ab sowie von den Chancen eines langfristigen Waffenstillstands. Doch begeben wir uns vom Bereich spekulativer Fantasie in den der praktischen Realität. Die Gangbarkeit eines progressiveren Ansatzes erfordert jetzt den Aufbau einer angemessenen Kriegswirtschaft, die das vorherrschende neoliberale Improvisieren ablöst, durch das sich die Selenskij-Regierung auszeichnet. Die Politik der Selenskij-Regierung, die das Schicksal der Ukraine völlig von der militärischen und finanziellen Unterstützung durch den Westen abhängig gemacht hat, lässt sich nicht auf Inkompetenz oder ein vermeintliches »falsches Bewusstsein« der ukrainischen Elite zurückführen. In ihr spiegeln sich vielmehr unmittelbar die Interessen und vorherrschenden Ideologien der hinter der Ukraine stehenden Klassenkoalition.

Dagegen liegt die große Herausforderung für einen autarkeren, auf eigene Ressourcen zurückgreifenden und staatsinterventionistischen Wirtschaftsansatz darin, dass es an den erforderlichen innenpolitischen Bedingungen und insbesondere einer organisierten Unterstützer*innenbasis innerhalb der Arbeiterklasse mangelt. Ironischerweise könnte der gangbarste Pfad zu progressivem Wandel gegenwärtig im Aufgreifen des »Sandwich-Ansatzes« der für die »Bekämpfung der Korruption« eintretenden Zivilgesellschaft bestehen, also im Versuch, sowohl internationale Institutionen als auch westliche Regierungen zu mobilisieren, um die ukrainische Regierung unter Druck zu setzen. Eine solche Politik verstetigt aber natürlich die Abhängigkeit der Ukraine vom Ausland. Das plausibelste Szenario einer Sicherung der politischen Voraussetzungen für eine staatlich gelenkte Entwicklungspolitik und die Förderung einer robusten, sich zur Trägerin progressiven Wandels machenden Arbeiterbewegung beinhaltet paradoxerweise eine Neuauflage des Kalten Krieges. Denn in diesem Szenario bliebe Russland für den Westen eine Bedrohung, die umfangreiche, politisch motivierte Investitionen in die Ukraine und nicht etwa in andere, profitablere und sicherere Standorte rechtfertigt, ohne dass es dabei zu groß angelegten Angriffen Russlands auf die Ukraine oder systematische Bombardierungen des ukrainischen Territoriums käme.

(Nach-)Kriegsszenarien

Noch begrenzter ist die Diskussion der internationalen Linken um die Zukunft Russlands. Beginnt diese Diskussion mit der Annahme eines Zusammenbruchs des Regimes, was übrigens keineswegs nur den Niedergang oder Sturz Putins erfordern würde, und geht sie über bloße Spekulation hinaus, dann bleibt sie notgedrungen auf exilrussische Kreise beschränkt. Die Linke sollte sich hier wie auch in Bezug auf andere Fragen von einer realistischen Einschätzung der kurz- und mittelfristigen militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Ukraine und Russland leiten lassen. Gelingt es Russland beispielsweise, den Krieg zu überstehen, aber nicht unbedingt zu gewinnen, dann könnten sich die KPRF und vergleichbare »linkspatriotische« Parteien als die einzigen verbliebenen linken Kräfte erweisen, die politisch relevant und zu legalem Handeln befähigt sind, und zwar auch in den annektierten ukrainischen Gebieten. Die KPRF hat zwar heute weitgehend den Charakter einer handzahmen »systemintegrierten Opposition«, doch ihr historisches Erbe, ihre in allen Details ausformulierte Ideologie und ihre etablierten Parteistrukturen bewahren sie dennoch vor der völligen Unterordnung durch den Kreml. Bislang haben diese Reste von Autonomie Oppositionellen innerhalb der Partei einen gewissen Spielraum gesichert oder aber die Stimmen von Protestwähler*innen angezogen. Es ist noch nicht abzusehen, wie sich die mit der Invasion begonnene Transformation des politischen Regimes Russlands auf die Partei auswirken wird. Allerdings könnte die bereits beobachtbare ideologische Festigung der KPRF, sofern noch ein gewisses Mobilisierungspotenzial hinzukommt, nicht nur eine Stärkung des Putin-Regimes ermöglichen, sondern ebenso wohl auch eine soziale Radikalisierung insbesondere des neosowjetischen Parteiflügels.

Eine gesteigerte politische Relevanz der prowestlichen Neuen Linken wäre dagegen zu erwarten, wenn es der Ukraine gelänge, bedeutende Fortschritte in Richtung einer EU-Mitgliedschaft zu machen. In diesem Szenario könnte sich die Neue Linke als ukrainisches Gegenstück der reformistisch-populistischen Linksparteien der EU eine innenpolitische Nische sichern und sich durch internationale Vernetzung zugleich gegen Angriffe seitens der ukrainischen Rechten wappnen. Je nach dem Charakter des auf den Krieg folgenden Wiederaufbaus könnte dies auch mit einem Wiedererstarken der Arbeiterbewegung einhergehen. Sich ein vergleichbares Szenario für Russland vorzustellen, ist zurzeit schwierig.

Sollte sich ein bedeutender Teil der Ukraine in einer Art Graubereich wiederfinden, als zweitrangiges EU-Mitglied derart in ein Netz unerfüllter Entwicklungsversprechen verstrickt, dass zwar Gebietsverluste kompensiert und die umfangreiche menschliche und wirtschaftliche Belastung durch den Krieg abgemildert werden, der politische Einfluss innerhalb der EU und die Wirtschaftshilfe sich jedoch in Grenzen halten, wozu womöglich noch die Drohung sporadischer Angriffe Russlands hinzukäme, dann wäre mit einer Fortdauer und Stärkung eingeschliffener personalistischer, ethnonationalistischer und repressiver Aspekte des ukrainischen politischen Regimes zu rechnen. Darüber hinaus würde sich dann wohl ein ausgeprägter Revanchismus Geltung verschaffen, was in einer Verschärfung der eifrigen Verfolgung von »inneren Feind*innen« und »Verräter*innen« zum Ausdruck käme, denen man vorwerfen würde, dem Land »in den Rücken gefallen« zu sein. In einem solchen komplexen Kontext dürften sich klandestine Gruppen als nützlichstes Mittel zum politischen Überleben und zur Fortsetzung relevanter politischer Tätigkeit erweisen, und das umso mehr, wenn dazu noch ein Versagen staatlicher Institutionen, sei es in der Ukraine, sei es in Russland, hinzukäme.

Die hier skizzierten Szenarien schließen sich nicht unbedingt aus, sodass von keinem vollends binären Entscheidungskalkül die Rede sein kann. Auch andere Szenarien sind denkbar, haben sich die militärischen Entwicklungen an der ukrainischen Front doch als schwer prognostizierbar erwiesen. Jedenfalls sollte eine realistische Einschätzung des Kriegsverlaufs und seiner Folgen Grundlage linker Debatten um die Ukraine sein.

Geopolitische Verschiebungen und Verfall »regelbasierter Ordnung«

Vor einer noch schwierigeren Frage steht die Linke schließlich in Bezug auf ihre Positionierung gegenüber den massiven Verschiebungen innerhalb der internationalen Ordnung. Im Allgemeinen ist die internationale Politik der Linken, die auf der Vision eines globalen Sozialismus und auf Strategien zur Verwirklichung dieser Vision beruhen sollte, vergleichsweise gering entwickelt und noch stärker von internen Disputen gezeichnet als linke Innenpolitiken. Gegenwärtig besteht eine tiefe Spaltung zwischen denen, die für eine »multipolare Welt« eintreten und denen, die den Aufstieg von Alternativen zum US-Imperialismus mit Argwohn beobachten und sich damit nolens volens auf die Seite einer im Verfall begriffenen US-Hegemonie schlagen. Dies hängt auch mit dem Fehlen einer unabhängigen Achse internationaler Arbeiterklassenpolitik zusammen.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Realisierbarkeit der in vielen linken Vorschlägen für einen nachhaltigen Frieden anvisierten übergreifenden, den Invasor Russland und möglicherweise auch einige größere Länder des globalen Südens miteinschließenden Sicherheitsarchitektur. Angesichts der Tatsache, dass die anhaltende Eskalation internationaler Konflikte unmittelbarer Ausdruck konfligierender Interessen der herrschenden Klassen ist, erscheint es fraglich, ob sich eine solche Sicherheitsarchitektur umsetzen lassen wird. Sollte es doch gelingen, so würde sie entweder als institutionelle Form einer neuen kapitalistischen Hegemonie, möglicherweise der chinesischen, fungieren, oder aber sie hätte genuin revolutionäre Umwälzungen innerhalb der heutigen Großmächte zur Voraussetzung.

Angesichts dieser Herausforderungen ist auch die Möglichkeit einer sozialen Revolution nicht auszuschließen, was Erinnerungen an frühere Epochen globaler Revolutionsschübe aufkommen lässt, etwa nach den beiden Weltkriegen oder auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. In einem Kontext, der geprägt ist von der Erosion demokratischer kapitalistischer Institutionen, der wachsenden Zersplitterung westlicher Eliten, die jegliche universalistische Vision verloren haben, und der zunehmenden Angewiesenheit der herrschenden Klassen auf Zwang und ethnische Säuberung könnte eine revolutionäre Lösung unserer gegenwärtigen Lage weniger utopisch erscheinen als Bemühungen, die im Verfall begriffene »regelbasierte Ordnung« zu retten oder neu gegründeten beziehungsweise reformierten, einem neuen Hegemon zu Dienste stehenden Institutionen einen rosaroten »demokratisch sozialistischen« Anstrich zu verleihen.


Aus dem Englischen von Max Henninger & André Hansen für Gegensatz Translation Collective