Die Elitenversteher in den Wirtschaftsredaktionen der großen bürgerlichen Zeitungen haben erkannt, dass sich die Grundstimmung in der Gesellschaft dreht. Sie beginnen, gegen die »rot-grünen Steuererhöhungspläne« anzuschreiben wie zuvor nur gegen die Forderung der LINKEN nach einer Begrenzung von Managergehältern. Gleichwohl werden sie Korrekturen der dominierenden Umverteilungspolitik nicht verhindern können, denn das Unbehagen über den desolaten Zustand des Gemeinwesens reicht weit in das alte und neue Bürgertum hinein. Einzig die FDP steht: Wenn schon keine Steuersenkungen, dann wenigstens keine Steuererhöhungen und absoluter Vorrang für eine »Haushaltskonsolidierung« mit Schuldenbremse. Aber schon die Union traut sich nicht mehr zu, mit einer derart offen klassenpolitischen Mobilisierung ihre Anhängerschaft ausreichend zur Stimmabgabe motivieren zu können.

Bürgerliches Unbehagen

Dort, wo um den Zusammenhang von Markt und Macht gewusst wird, im wirtschaftspolitischen Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, lautet die Einschätzung der Kräfteverhältnisse zum »Tag der Arbeit« 2013 nüchtern: »Gute Arbeit, sichere Rente und ein soziales Europa – wer würde das nicht wollen? [...] Kämpferische Gewerkschaften? [...] Diese sind, wenn man es feierlich formulieren will, in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Oder, profaner und präziser: Die politische Mitte Deutschlands ist bei den Gewerkschaften angekommen.« (FAZ, 30.4.2013, 9) Der politische Ausgangspunkt für diese Neuordnung der gesellschaftlichen Kräfte liegt im krisengestählten Neokorporatismus zwischen exportstarken Unternehmen und Gewerkschaften wie der IG Metall seit der Rezession 2009. Nicht gegen gewerkschaftliche Macht, sondern im Bündnis mit den Gewerkschaften erfolgreiche Politik in und mit der Krise zu machen, hat sich für die deutsche Volkswirtschaft als das gegenüber der »modernen Sozialdemokratie« von Blair und Schröder erfolgreichere Modell erwiesen. Mit ihm geht die Erkenntnis einher, dass es im wirklichen Leben doch noch etwas anderes gibt als Individuen und Märkte, nämlich gesellschaftliche Voraussetzungen und Akteure des Wirtschaftens, die Politik und staatliche Interventionen. Die ideologische Hegemonie von Markt und Eigenverantwortung bröckelt. Plötzlich waren es nicht mehr nur ein paar Linke am politischen Rand, die die Politik der Ungleichheit als nackte Bereicherung am gemeinsam erwirtschafteten Reichtum bezeichneten. Mitten aus dem bürgerlichen Feuilleton wurde gerufen: Die Märkte sind nackt! Sie unterhöhlen die konservativen bürgerlichen Werte der Leistungsgerechtigkeit, der Chancengerechtigkeit, sie haben keine Moral, auf das Versprechen ihrer segensreichen Wirkungen sind keine Mehrheiten mehr zu bauen. Mittlerweile hat diese bürgerliche Werte- und Sinnleere einen Namen: Uli Hoeneß. Erst erfolgreicher Wurstfabrikant und Vereinspräsident, Wirtschaftsführer und Sozialstaatsverächter mit hoher sozialer Verantwortungsbereitschaft nach eigenem Gusto – und dann das: auch nur ein schnöder Betrüger. Das ›wohlverstandene Eigeninteresse‹ reguliert sich nicht von selbst zum allgemeinen Wohl. Dieses Vertrauen in die starken Wirtschaftssubjekte erwies sich als ebenso falsch wie das Paradigma, Märkte als regelfreie Zonen zu konzipieren. Sie bleiben eine Macht, die politische Verhältnisse gestalten kann. Diese ist aber nicht länger unangefochten. Glaubt man der Kanzlerin und ihrem Herausforderer, hat sich demokratische Politik zuerst vor den internationalen Finanzmärkten zu verantworten, bevor sie gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern dargelegt wird. Krisenstrategien werden im Verschlossenen besprochen, Signale ausgesandt, die Reaktion ›der Märkte‹ getestet und auf Zeichen ihres Vertrauens gewartet. Erst dann wird die Maschinerie einer neuen Ratifizierungsdemokratie in Gang gesetzt, deren Resultat natürlich das gerade aufgebaute Vertrauen ›der Märkte‹ nicht wieder zerstören darf. Wer sich hinter diesem politischen Subjekt verbirgt, provoziert um demokratische Regeln und Beteiligung besorgte bürgerliche Schichten. Die Forderung nach ›Transparenz‹ liegt nahe und noch ganz im Rahmen neoklassischer Modelle, nach denen Märkte bei vollständiger Information am besten funktionieren. Doch der bürgerlich-liberale Grundsatz, dass Märkte Instrumente der Wirtschaftssubjekte sind und nicht verselbständigte Mächte, treibt seine Anhänger zur Kritik der bestehenden Verhältnisse. Die rechts und links verbreitete Renaissance des Ordoliberalismus zählt ebenso dazu wie Frank Schirrmachers Furor vor der technologischen Allmacht durchökonomisierter Algorithmen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Mit Wolfgang Streeck wiederum zählt ein ehemaliger Berater der Schröder-Fischer-Regierung heute zu den vehementesten Warnern vor dem Untergang der Demokratie angesichts der Zerstörungsmacht, die der europäische Kapitalismus in der Politik mit der Krise entfaltet: »Ein Demokratieprojekt, das die Bestellung eines ›europäischen Finanzministers‹ ermöglichen soll, der wiederum die Bedienung der ›Märkte‹ zu garantieren und dadurch deren ›Vertrauen‹ wiederherzustellen hätte – ein Demokratieprojekt also, das davon absieht, die Demokratiefrage mit der Neoliberalismus- oder gar der Kapitalismusfrage zu verknüpfen –, bedarf des Schweißes der Demokraten nicht. Es läuft, als neoliberales Herzensanliegen, von allein.« (Streeck 2013, 64) Die Sorge vor dem moralischen und demokratischen Bankrott der kapitalistischen Marktwirtschaft geht einher mit der sich ausbreitenden Klage über die Rückkehr von offensichtlichen Klassenverhältnissen in der Sozialstruktur. Stabile soziale Schließungen werden in den oberen und unteren Schichten empirisch beobachtet bei der Verteilung von Betriebs-, Immobilien- und Geldvermögen, auf den Heiratsmärkten, bei der Elitenrekrutierung, bei sozialer Aufstiegsmobilität und bei Bildungschancen. Deutschland zählt zu den Ländern mit der größten Differenz zwischen mittlerem und Durchschnittsvermögen und weist die höchsten Wachstumsraten in der Ungleichheit der Vermögensverteilung auf. Hans-Ulrich Wehler, Sozialhistoriker und ein der Linken abholder Intellektueller, konstatiert: »Mit verschärfter Ungleichheit wird, über kurz oder lang, die Legitimationsgrundlage des politischen Systems durch wachsende Zweifel in Frage gestellt. Denn die Glaubwürdigkeit der modernen sozialstaatlichen Massendemokratie beruht vor allem darauf, dass sie eine allzu schroffe Ungleichheit der Lebenslagen erfolgreich bekämpft, die Gleichheitschancen überzeugend vermehrt statt vermindert.« (Wehler 2013, 9) Was gemeint ist, lässt die Diskussion über die Begrenzung der Managergehälter aufblitzen: Wie viel Ungleichheit, wie viele Einkommensunterschiede sind durch Leistungsunterschiede gedeckt, also mit den Grundsätzen der Leistungs- und Chancengerechtigkeit vereinbar, und wo beginnt die nackte Bereicherung, der Raub, das egoistische Nehmen, was man kriegen kann? Solche Kritik am real existierenden Kapitalismus und seiner unzureichenden Selbst­reflexion jenseits der politischen Linken ist weit verbreitet und artikuliert ein tiefes Unbehagen, wonach es, so wie es läuft, nicht gut gehen kann. Zur Kennzeichnung der Brüche und Kräfte gehört auch der Verweis auf starke Gegenspieler – etwa Thilo Sarrazin, dessen Thesen vor allem in Mittelschichten Wirksamkeit entfalteten, weil sie Ungleichheit mit Religion, Migration und vererbter Dummheit erklärten. Die Mittelschichten, also ›wir‹, würden durch Arme und Einwanderer ausgebeutet. Friedrich von Hayek prägte den Satz, dass den Idealen der Demokratie besser gedient wäre, wenn »alle Staatsdiener oder alle Empfänger öffentlicher Unterstützungen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären« (2005, 135). Ökonomen seines Geistesschlages formulieren heute so: »Bildungsferne Gruppen entscheiden aber über die künftige Entwicklung ihrer Heimat mit und fördern, dass Regierungen vor Wahlen gerne auf Pump kostspielige Zugeständnisse machen« (Ortner 2013, o.S.). Die Demokratie neige dazu, »sich früher oder später in die Pleite zu wählen« (ebd.). Der Umgang mit den südeuropäischen Demokratien erscheint als Blaupause einer solchen reaktionären Transformationspolitik, denn für Korrekturen sei »eine Instanz notwendig, die den Prozess der Wählerbestechung per Schuldenaufnahme zum Stillstand bringt. Das ist nur möglich, wenn diese Instanz nicht genauso um ihre Wiederwahl bangen muss wie die Parlamentarier« (ebd.). 

Von oben nach unten?

Der zukünftige Weg der europäischen kapitalistischen Gesellschaften ist ein umkämpfter, kein vorgezeichneter Weg. Autoritäre Modelle konkurrieren mit Modellen einer Erneuerung der demokratischen Legitimationsgrundlage. Deshalb stehen die Chancen für eine Umfairteilung nicht schlecht, denn beide Modelle sind darauf angewiesen, die – demokratisch oder autoritär vermittelte – Zustimmung einer breiten Basis zu generieren. Da sich die sozialen Schichten und Klassen der bundesdeutschen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Krisenberichte aus den südeuropäischen Gesellschaften neu zueinander ordnen, sind neue Konstellationen möglich, etwa zwischen den schwarz-bürgerlichen und grün-bürgerlichen Milieus. Die umworbenen und umkämpften Klassen finden sich in der ›Mitte der Gesellschaft‹. Zurecht fürchten sie den sozialen Abstieg. Den sozialen Status und seine Grenzziehungen nach unten zu verteidigen, ersetzt allmählich die vorherige Aufstiegsorientierung. Diese gesellschaftliche Mitte fühlt sich im Bild von der Umverteilung zwischen Oben und Unten übergangen: Bei der Umverteilung von unten nach oben ist bei ihnen nichts hängen geblieben. Warum sollte es bei der umgekehrten Verteilungsrichtung anders sein? Umfairteilen mit Umverteilung von oben nach unten zu übersetzen, übersieht die soziale Lage und Befindlichkeit der mittleren Einkommensschichten. Die LINKE rüttelt gelegentlich an den Stäben dieses diskursiven Käfigs: Entgegen ihrem Image, von den Reichen zugunsten der Armen nehmen zu wollen, vertritt sie für die Bundestagswahl das einzige Einkommensteuermodell, in dem eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes auch den mittleren Einkommen bis 60 000 Euro eine spürbare Entlastung bringen würde. Ein unmittelbarer Zugang zu den Befürchtungen und Diskursen der ›schrumpfenden‹ und ›bedrohten‹ Mitte fehlt jedoch noch. Eine weitere Grenze linker Diskursfähigkeit bildet ein traditionell skeptisches Verhältnis zur Verteilungspolitik überhaupt. Ist Verteilungspolitik nicht reformistisch? Steht sie nicht für ein vorschnelles und grundsätzliches Einverständnis mit der kapitalistischen Ordnung des Wirtschaftens? Ist es nicht die Aufgabe von Verteilungspolitik, durch die Abschöpfung von Produktivitätsgewinnen, durch den Aufbau von Sozialeigentum der breiten Volksmassen und durch progressive Einkommensbesteuerung ungewollte Fehlsteuerungen in der ›Primärverteilung‹ der Einkommen auszugleichen? Muss nicht zuerst produziert werden, was verteilt werden kann? Woher sollen aber die Ressourcen für sozialpolitische Verteilungsziele kommen? Hat nicht erst die angemessene Verzinsung des vorgeschossenen Kapitals, also wirtschaftliches Wachstum, systematisch Vorrang vor der ›Verteilung‹ des übriggebliebenen Restes? Gehört nicht gerade zur linken Umverteilungspolitik der Nachweis, dass zu viel Armut und Ungleichheit einem reibungslos funktionierenden Kapitalverhältnis im Wege steht: Armut schadet dem Reichtum und seiner Akkumulation, weil es an Kaufkraft fehlt, weil Ressourcen verschwendet werden, weil der soziale Zusammenhalt gefährdet ist, weil der soziale Frieden und damit stabile Bedingungen für Investitionen fehlen (vgl. Stiglitz in diesem Heft). Ist also Verteilungspolitik bloße Reparaturpolitik, die darauf verzichtet, die Art und Weise der Produktion des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums zu verändern? Wer wollte die Berechtigung dieser Fragen bestreiten? Doch können wir sie uns im siebten Jahr des aktuellen Krisenzyklus leisten? Zu offensichtlich ist in vielen europäischen Ländern, dass Austeritätspolitik nur ein anderer Name für eine aggressive Verteilungspolitik ist. Ihr geht es nicht darum, Wertschöpfung und wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Ziel ist vielmehr die Fähigkeit etwa des griechischen und anderer Staaten, in den kommenden Jahrzehnten die Staatsschulden bedienen zu können. Statt um Wertschöpfung geht es um Wertabschöpfung, die Abtretung eines gewaltigen Teils des erwirtschafteten Reichtums auf Jahrzehnte an ›die Märkte‹, von denen in diesem Fall ein erheblicher Teil in Deutschland zu Hause ist. Die Alternative lautet: Schuldknechtschaft, solange es etwas auszupressen gibt, also Löhne gesenkt und öffentliche Sozialleistungen abgebaut werden können, oder Wiedereintritt in einen wirtschaftlichen Zyklus, der ein selbsttragendes Überleben der nationalen Volkswirtschaft ermöglicht.

Umverteilung als Klassenkampf …

Wer von Umverteilung reden will, muss vom Kampf der Klassen nicht schweigen. Im Gegenteil: Die Krise verweist uns mit elementarer Macht auf die Frage nach der Verfügung über die Mittel der eigenen Reproduktion. Der Mittel für die eigene Subsistenz beraubt, kommt es entscheidend darauf an, einen Platz im Kapitalverhältnis zu finden. Nur durch den Verkauf des eigenen Arbeitsvermögens kann ein Einkommen erzielt werden, mit Hilfe dessen auf anderen Märkten die Mittel der eigenen Reproduktion gekauft werden können – es sei denn, sie werden öffentlich zur Verfügung gestellt oder sozialstaatlich erworben, etwa als Rechtsansprüche auf berufliche Weiterbildung, Krankenversicherung, Alterseinkommen oder andere Formen des individuellen oder gemeinsamen Sozialeigentums. Bei all dem handelt es sich weniger um eine Frage der vertikalen Verteilung von Einkommen zwischen oben und unten, sondern vielmehr um die Verteilung von Kapital – also der Chance, von Zinsen statt vom Lohn leben zu können. Die Teilung des Volksvermögens, des Betriebs-, Immobilien- und Finanzvermögens schreibt fundamentale Abhängigkeitsverhältnisse fest: Zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 61 Prozent des Volksvermögens, 70 Prozent nicht einmal ein Zehntel und die Hälfte kommt gerade mal auf ein Prozent. Verbinden sich diese Teilungen mit einer Politik des Sozialstaatsabbaus und der Ausweitung der Zonen marktvermittelter Reproduktion und marktfähiger Nachfrage, also der Ökonomisierung immer weiterer Lebensbereiche, dann wachsen Unsicherheit, Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit der alltäglichen Reproduktion dramatisch – individuell wie gesellschaftlich. Immer öfter sind diejenigen glücklich, die auf familiäre, nachbarschaftliche oder andere soziale Ressourcen der Gegenseitigkeit zurückgreifen können.

…um Reproduktionsbedingungen

Die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung um emanzipatorische Ziele kann nicht allein auf dem monetären Feld geführt werden. Es geht immer auch um den Anteil der individuellen und der gesellschaftlichen Reproduktion, der nicht unmittelbar dem Kapitalverhältnis unterstellt ist, also um die Grenzziehungen zwischen marktvermittelten und sozialstaatlich vermittelten, zwischen monetären und nichtmonetären kollektiven Gütern. Ein großer Teil des wirtschaftlichen Drucks, der auf Angehörigen mittlerer Einkommensschichten lastet, resultiert aus der Ausweitung marktvermittelter monetärer Reproduktion, angefangen bei der Gesundheit und endend bei den Kosten für die Schulbildung der Kinder. Eine neue Verteilung zwischen öffentlich und privat kann ein Schlüssel für ein auch politisch wirksames Unten-Mitte-Bündnis sein, gerade weil es entscheidende Lebensbereiche wieder vor der ökonomischen Logik schützen will. Die anschließende zweite große Frage, die sich aufdrängt, wenn die gesellschaftliche Reproduktion aus der Perspektive der Nichtvermögensbesitzer gestellt wird, ist die Frage nach den »guten Dingen des Lebens«, dem Grund zum Glücklichsein: Gesundheit, Sicherheit, Respekt, Persönlichkeit, Freundschaft – und Muße, Dinge ohne äußeren Zwang um ihrer selbst willen zu tun. Volkstümlich gibt es »wichtigere Dinge im Leben als Geld«. Marx nannte es die »freie Lebensäußerung, daher Genuss des Lebens« (MEW 40, 463), deren materielle Bedingungen durch die kapitalistische Revolutionierung der Produktionsmittel geschaffen würden. Mittlerweile ist davon auszugehen, dass die Revolutionierung der Produktionsmittel so weit fortgeschritten ist, dass global allen Menschen die Basisgüter eines guten Lebens zugänglich sein können. Die diskursiven Käfige der Linken haben viel mit der verloren gegangenen Fähigkeit zu tun, die emanzipatorischen Versprechen des Communismus mit der bürgerlichen Sinnsuche zu verknüpfen. Die neoklassischen Ökonomie-Modelle können die entstandenen Ungerechtigkeiten nicht erklären. Sie liefern keine Erklärung dafür, warum an den Finanzmärkten mehr zu verdienen ist als in der Realwirtschaft. Sie erklären nicht die Einkommensunterschiede, die horizontalen und vertikalen Verteilungen des Reichtums im Rahmen eines ökonomischen Modells, das zugleich moralische Legitimität beanspruchen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften könnte. Die einzige Erklärung lautet: Sie können es tun, denn sie haben die Macht. Damit treten aber wieder Klassen und Konflikte auf die Bühne der Ökonomie, die politische Ökonomie oder das Politische der Ökonomie ist zurück im Spiel.

Neuverteilung

Die Kraft der gesellschaftlichen und politischen Linken in Deutschland reicht aktuell nicht, in diesen Formierungen eine prägende Rolle zu spielen. Sie kann aber dazu beitragen, den Horizont der politischen Fantasie von der Umverteilung zu einer Neuverteilung zu öffnen. Sie kann fortfahren, Steine zu werfen, nicht Pflastersteine auf die bruchsicheren Fenster von Banken, sondern diskursive ›Steine‹ guter Fragen und vorstellbarer Möglichkeiten. Mit den im symbolischen Teich aus gesellschaftlichen Klassenkonstellationen, Wahrnehmungsmustern der sozialen Welt und Alltagsbewusstsein ausgelösten Wellen kann sie politisch überraschende Verknüpfungen verbinden. Vom Chronisten der amerikanischen und französischen Revolution wären dabei alte Einsichten in die Dialektik von Veränderung und Umwälzung neu zu entdecken: »Man gelangt nicht immer dann zur Revolution, wenn eine schlimme Lage zur schlimmsten wird. Sehr oft geschieht es, dass ein Volk, das die drückendsten Gesetze ohne Klage und gleichsam, als fühlte es sie nicht, ertragen hatte, diese gewaltsam beseitigt, sobald ihre Last sich vermindert. Die Regierung, die durch eine Revolution vernichtet wird, ist fast stets besser als die unmittelbar vorausgegangene, und die Erfahrung lehrt, dass der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt. [...] Zwanzig Jahre früher erhoffte man nichts von der Zukunft: jetzt fürchtet man von ihr nichts. Die Phantasie, die sich im voraus dieser nahen und unerhörten Glückseligkeit bemächtigt, macht gleichgültig gegen die Güter, die man bereits hat, und drängt den neuen Dingen entgegen.« (Tocqueville 1856, 177f)     Literatur Hayek, Friedrich A. von, 2005:  Die Verfassung der Freiheit. Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Abt. B Band 3, hg. v. Alfred Bosch und Reinhold Veit, Tübingen Maier, Charles S., 2013: Das Politische in der Ökonomie. Die Machtvergessenheit in der Wirtschaftswissenschaft; in: Mittelweg 36, 2/2013, 7–20 Marx, Karl: Historisch-ökonomische Studien (Pariser Hefte), Auszüge aus James Mills Buch »Éléments d’économie politique«, MEW 40 Ergänzungsband I, Berlin Ortner, Christian, 2013: Prolokratie: Demokratisch in die Pleite, Wien Skidelsky, Robert, und Edward Skidelsky, 2013: Zurück zum Wesentlichen. Was wir zum guten Leben brauchen; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2013, 79–90 Streeck, Wolfgang, 2013: Was nun, Europa?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2013, 57–68 de Tocqueville, Alexis, 1856: Der alte Staat und die Revolution, Warendorf (2013) Wehler, Hans-Ulrich, 2013: Die neue Umverteilung, München