Mit dem Anstieg der Fluchtbewegungen ins Zentrum Europas ist das bisherige Grenzregime, von dem vor allem Deutschland profitiert hatte, infrage gestellt. Die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums verlangt aus Sicht der ›Wir-schaffen-das-Kanzlerin‹ nach Maßnahmen zur effektiveren Migrationskontrolle. Damit dem ›Sommer der Migration‹ kein weiterer folgen kann, werden unterschiedliche Maßnahmen zur Bewältigung der ›Flüchtlingskrise‹ ergriffen: Nach innen erleben wir in kurzer Folge die zweite Verschärfung des Asylrechts, die weitere Länder auf die Liste der ›sichereren Herkunftsstaaten‹ setzt (vgl. Pelzer in diesem Heft). Zudem wird in der EU um Aufnahmekontingente, die Aussetzung von Schengen und die Zukunft des DublinSystems gerungen und werden außerhalb der EU mit Transitstaaten Abkommen zur Grenzsicherung und Rückübernahme geschlossen. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet reicht die EU-Grenzsicherung damit längst bis ans Horn von Afrika und die Migrationskontrolle respektive Fluchtverhinderung wird bis in die Herkunftsstaaten ausgeweitet.

Abwehren: die Festung Europa ausbauen

Die EU-Außengrenzen werden längst nicht mehr national, sondern zunehmend gemeinschaftlich gesichert. Für die Koordinierung einer einheitlichen Grenzsicherung wurde 2004 die Grenzschutzagentur Frontex eingerichtet und seitdem zu einer Grenzschutzpolizei mit vielfältigen Aufgaben ausgebaut. Im Mittelmeer etwa patrouillieren seit November 2014 deren Küstenwachschiffe vor Italien. Diese Operation Triton dient nicht der Grenzsicherung im eigentlichen Sinne, sondern der ›Schleuserbekämpfung‹, also der Sicherung der italienischen Küsten vor ankommenden Flüchtlingsbooten.

Zur Migrationsabwehr gehört seit dem Sommer 2015 auch ein Militäreinsatz: die Operation EU NAVFOR Med im südlichen Mittelmeer. Diese dient der »Unterbindung des Geschäftsmodells der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke im südlichen und zentralen Mittelmeer« (Bundesregierung 2015). Auch Deutschland ist daran mit bis zu 950 Truppen beteiligt und hat dafür allein im Haushaltsjahr 2016 um die 32 Millionen Euro bereitgestellt. Eine Fortsetzung der italienischen Seenotrettung Mare Nostrum hätte die Bundesregierung deutlich weniger gekostet. Diese hatte von Oktober 2013 bis Oktober 2014 etwa 130 000 Menschen das Leben gerettet, musste jedoch Ende 2014 eingestellt werden, weil kein EU-Mitglied bereit war, sich an den monatlichen Kosten von 9 Millionen Euro zu beteiligen.

Aufhalten: Grenzkontrollen auslagern

Die afrikanischen Staaten gehören – trotz zeitweise deutlich größerer Fluchtbewegungen aus Syrien, Afghanistan und Irak – zu den wichtigen ›Herkunftsländern‹ von MigrantInnen. Um sicherzustellen, dass möglichst wenige den Kontinent in Richtung Europa verlassen, setzen die EU und Deutschland seit Jahren auf die Zusammenarbeit mit Regierungen der südlichen Mittelmeerstaaten. Diese zielt in erster Linie darauf ab, Menschen auf ihrem Weg nach Europa aufzuhalten. Das wohl bekannteste und berüchtigtste Beispiel ist die Kooperation mit dem damaligen Präsidenten Libyens, Muammar al Gaddafi. Vom Westen wegen seiner Regierungsführung und der antiwestlichen Außenpolitik massiv kritisiert, war er bei der Flüchtlingsabwehr ein geschätzter Partner. Libyen kommt aufgrund seiner Lage und seiner 1 770 Kilometer langen Mittelmeerküste eine Schlüsselrolle bei der Migrationskontrolle zu. Zunächst mit italienischen, später auch mit europäischen Geldern wurden dort seit 2003 Flüchtlingslager errichtet und die Küstenwache verstärkt. Mit dem gewaltsamen Sturz Gaddafis durch die internationale Militärintervention im Jahr 2011 endete diese Kooperation.

Seitdem ist der Weg über Libyen wieder zu einer bevorzugten Migrationsroute nach Europa geworden. Auch deshalb sind die EU-Staaten an der zügigen Bildung einer international anerkannten Regierung interessiert. Eine zumindest dem Anschein nach legitime Regierung wird auch benötigt, um den Einsatz von Truppen im Rahmen der dreistufigen Marine-Operation EU NAVFOR Med zu genehmigen. Nach den ersten beiden Phasen der Seebeobachtung und des Umlenkens von Booten auf hoher See steht die Jagd auf Schleuser und Fluchthelfer und deren Infrastruktur im Land selbst auf dem Programm. Rechtlich zulässig ist dies nur mit UN-Mandat oder mit Zustimmung der lybischen Regierung – deren ›Qualität‹ spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Ähnliches gilt für andere Länder des südlichen Mittelmeerraums: Mit dem Arabischen Frühling endeten die Bündnisse zur Grenzsicherung mit Tunesien und Ägypten nur vorläufig, es wurden umgehend Verhandlungen mit den neuen Regierungen aufgenommen. Mit Tunesien besteht seit 2014 zudem eine sogenannte Mobilitätspartnerschaft, die neben einem Rückführungsabkommen auch eine Verlagerung des Flüchtlingsschutzes von der EU nach Tunesien vorsieht, obwohl Geflüchteten dort grundlegende Rechte verwehrt werden. Als Gegenleistung für das Aufhalten von MigrantInnen erhält Tunesien personelle und finanzielle Unterstützung bei der Grenzsicherung und Visaerleichterungen für bestimmte Personengruppen. Eine ähnliche Mobilitätspartnerschaft wurde 2013 mit Marokko vereinbart – dem Land, das bis heute eine faktische Kolonialherrschaft in der Westsahara ausübt. Auch mit Algerien wird eine solche angestrebt.

Während auf EU-Ebene weitere Mobilitätspartnerschaften in Planung sind, will die Bundesregierung Tunesien, Algerien und Marokko ungeachtet gravierender Defizite bei den Menschen- und Freiheitsrechten zu sicheren Herkunftsstaaten erklären (vgl. Pelzer in diesem Heft). Damit sollen Asylverfahren und Abschiebungen beschleunigt und der Trend steigender Migrationszahlen aus diesen Ländern gestoppt werden.

Festhalten: ein Pakt mit Despoten

Eine weitere Dimension der Migrationskontrollen lässt sich am Khartoum-Prozess verdeutlichen. Künftig sollen Menschen bereits am Verlassen ihres Herkunftslandes gehindert werden, unabhängig davon, ob dort ein Bürgerkrieg tobt oder autoritäre Regierungen an der Macht sind, die von europäischer Seite bislang als ›Partner‹ eher gemieden wurden.

Seit dem 28. November 2014 gibt es die EU-Horn of Africa Migration Route Initiative (auch Khartoum-Prozess genannt), eine Vereinbarung zwischen den EU-Ländern, Dschibuti, Eritrea, Äthiopien, Kenia, Somalia, Sudan, Südsudan, Ägypten und Tunesien. Erklärtes Ziel ist auch hier die Bekämpfung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel, und zwar entlang einer Route, die vom Golf von Aden über die ans Rote Meer angrenzenden Staaten bis zur Mittelmeerküste nach Europa reicht.

Am Beispiel Eritrea wird die politische Tragweite der Initiative deutlich. Der Aktionsplan umfasst ein Projekt zur »Stärkung der institutionellen und personellen Kapazitäten der eritreischen Regierung bei der Migrationskontrolle« (EU 2015). In Deutschland erhalten Menschen aus Eritrea in neun von zehn Fällen politisches Asyl. Zwischen 3000 und 5000 Männer und Frauen entziehen sich monatlich der Unterdrückung des Regimes durch Flucht. Von den insgesamt etwa 420 000 Geflüchteten haben 2014 knapp 37000 in der EU Asyl beantragt, etwa die Hälfte davon in Deutschland. Die Anerkennungsquote von eritreischen Asylsuchenden in Deutschland liegt seit Jahren stabil bei über 90 Prozent.

Seit der Unabhängigkeit von Äthiopien im Jahr 1993 ist Eritrea regional und international isoliert. Als Folge des Krieges mit Äthiopien (1998–2000) gilt das Land als hochgradig militarisiert. Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen kritisieren willkürliche Verhaftungen und Tötungen, Folter, politische Verfolgung, grausame Haftbedingungen, Zwangsarbeit sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Glaubens- und Religionsfreiheit. In Sachen Pressefreiheit belegt Eritrea bei Reporter ohne Grenzen den letzten Platz. Seit 2002 müssen alle StaatsbürgerInnen zwischen dem 18. und dem 50. Lebensjahr Militärdienst leisten, der eigentlich auf 18 Monate begrenzt ist, aber regelmäßig über Jahre verlängert wird. Die Wehrdienstleistenden werden häufig zu Arbeiten in der Landwirtschaft oder Verwaltung zwangsverpflichtet und sind Misshandlungen ausgesetzt. Der Militärdienst ist der Haupt-, aber nicht der alleinige Grund, das Land zu verlassen. Wem dies gelungen ist, der oder die ist jedoch noch lange nicht sicher vor dem Regime: Dieses erpresst von den Geflüchteten eine ›Exilsteuer‹, indem sie mit Bestrafung der im Land verbliebenen Angehörigen droht.

Was bedeutet die »Stärkung der institutionellen und personellen Kapazitäten der eritreischen Regierung bei der Migrationskontrolle« vor diesem Hintergrund? Eritrea ist kein Transit- oder Zielland für Migration oder Tourismus. Es ist aber Herkunftsland von Menschen, die vor politischer Verfolgung fliehen – die Anerkennungsquote spricht für sich. Die Stärkung der eritreischen Regierung bei der Grenzsicherung kann demnach nur bedeuten, dem Regime dabei zu helfen, seine Unterdrückung ungestraft fortzusetzen und die Opfer daran zu hindern, sich dieser zu entziehen – und sie damit von asylrechtlichem Schutz in der EU und in Deutschland fernzuhalten.

Ähnliche Projekte wie das in Eritrea sind für Südsudan und Sudan geplant. Im Sudan soll ein regionales Trainingszentrum zur Schleuserbekämpfung eingerichtet, im Südsudan das Grenzmanagement verbessert werden. Zur Erinnerung: Der sudanesische Präsident Omar al Bashir wird vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermord und Kriegsverbrechen gesucht. Im Südsudan herrscht Bürgerkrieg, in dem der gewählte südsudanesische Präsident Salva Kiir eine Armee und Milizen befehligt, die gezielt Verbrechen an der Zivilbevölkerung begehen. Beide Länder befinden sich zudem in einem anhaltenden Konflikt miteinander, unter anderem kämpfen sie um die ölreiche Region bei Abyei in unmittelbarer Nähe der bis heute umstrittenen zwischenstaatlichen Grenze. In beiden Ländern finden zudem internationale Militäreinsätze statt. Ähnlich wie im Fall Eritreas würde ein ›verbessertes‹ Grenzmanagement bedeuten, die massenhafte Flucht vor anhaltender Gewalt zu unterbinden.

Pro Asyl nennt den Khartoum-Prozess einen Pakt mit Despoten. Dieser Ansicht sind auch VertreterInnen der Regierungsfraktionen. Am 10. Juni 2015 waren die hohen Flüchtlingszahlen und ein UN-Menschenrechtsbericht zu Eritrea Thema einer von CDU/CSU und SPD beantragten Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag. Fast alle zeigten sich bestürzt angesichts der miserablen Menschenrechtslage. Fraktionsübergreifend bestand Einigkeit, Flüchtlingen aus Eritrea helfen, aber auch Verbesserungen für die Lebensbedingungen der Menschen im Land selbst erreichen zu wollen. Man müsse deshalb zwar mit dem Regime im Dialog bleiben, dürfe es aber keinesfalls stärken.

Die geplante Unterstützung der eritreischen Regierung bei der Grenzsicherung wurde mit keinem Wort erwähnt, was daran liegen mag, dass der bereits am 27. April 2015 verabschiedete Aktionsplan monatelang unter Verschluss gehalten wurde. Öffentlich wurden die Pläne erst, als der Aktionsplan der ARD zugespielt wurde und Monitor am 23. Juli 2015 darüber berichtete. Deutschland ist jedoch Mitglied im Lenkungsausschuss des Khartoum-Prozesses und somit an der Entwicklung dieser Projekte direkt beteiligt. Offenbar hat die Bundesregierung die Abgeordneten vor der Plenardebatte nicht über die geplante Unterstützung der eritreischen Regierung unterrichtet. Nach Bekanntwerden der beschlossenen Projekte wurden diese auch nicht infrage gestellt, eine Kurskorrektur blieb aus. Im Gegenteil: Am 15. Dezember 2015 reiste mit Entwicklungsminister Gerd Müller erstmals nach 20 Jahren ein hochrangiger deutscher Politiker nach Eritrea, um mit dessen Präsidenten Afewerki über künftige Entwicklungszusammenarbeit und die Eindämmung der Migration zu sprechen.

Migration verhandeln und einen Aktionsplan beschließen

Unterdessen wurde der ›Pakt‹ auf dem jüngsten EU-Afrika-Gipfel zu Migration mit deutscher Beteiligung auf weitere Staaten ausgeweitet und konkretisiert. Neben Vertretern von EU und Afrikanischer Union kamen im November 2015 im maltesischen Valetta auch Repräsentanten aller Staaten des Khartoum-Prozesses sowie der Sahel-Region und aus West- und Ostafrika zusammen. Mit EUROPOL, Frontex und INTERPOL waren zudem die für Migrationsabwehr relevanten polizeilichen Institutionen vertreten. Am Ende des Gipfels wurde ein Aktionsplan gegen ›irreguläre‹ Migration verabschiedet und dafür von der EU ein 1,8 Milliarden Euro schwerer Treuhandfond aufgelegt, aus dem nicht zuletzt Projekte finanziert werden sollen, die die Rückkehr und Aufnahme von abgeschobenen Flüchtlingen in den Herkunftsländern erleichtern sollen.

Zu den wichtigen Ergebnissen des Gipfels gehört auch die von der EU vehement geforderte Selbstverpflichtung der afrikanischen Staaten, ihre illegal in die EU eingereisten Staatsangehörigen zurückzunehmen, genauso wie ein verbesserter Schutz der eigenen Landesgrenzen.

Da Überweisungen emigrierter Staatsangehöriger eine wichtige Einnahmequelle für deren überwiegend schwache Volkswirtschaften darstellen, hatten die afrikanischen Teilnehmer ein Interesse daran, die Rückübernahmeverpflichtungen wenigstens teilweise durch Erleichterungen bei der Migration in die EU auszugleichen. Diese Forderungen konnten allerdings nicht durchgesetzt werden. Eine wirkliche Kompensation stellt – entgegen den Behauptungen von EU-Seite – auch der Fond nicht dar. Zum einen fällt die Gesamtsumme von 1,8 Milliarden Euro für 34 Staaten sehr niedrig aus. Zum anderen liegt die Entscheidung darüber, welche Projekte aus dem Fond finanziert werden, ausschließlich bei denjenigen Staaten, die zusätzlich mindestens 3 Millionen Euro in den Treuhandfond eingezahlt haben. Zu diesen Ländern gehört Deutschland. Die begünstigten afrikanischen Länder und Regionalorganisationen dürfen auf Einladung zwar an den Sitzungen teilnehmen, haben aber kein Stimmrecht. Insgesamt soll auch hier nach dem Prinzip more for more verfahren werden: Finanzhilfen werden daran geknüpft, ob die afrikanischen Staaten bei der Migrationskontrolle kooperieren.

Fluchtursachen, nicht Flucht bekämpfen

Um unerwünschte Migration einzudämmen, ist die EU nicht nur bereit, ihren ›Grenzschutz‹ bis in die südlichen Mittelmeerländer auszuweiten, sondern auch mit Staaten zu kooperieren, aus denen fast ausschließlich politisch Verfolgte kommen – siehe Südsudan und Eritrea. Initiativen wie der Khartoum-Prozess bekämpfen nicht Fluchtursachen, sondern Migration selbst – und damit auch Flucht. Die wesentlichen Gründe, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen, werden systematisch ausgeblendet: Armut, Unterdrückung, bewaffnete Konflikte, westliche Militärinterventionen, Klimawandel oder Umweltverschmutzung. Stattdessen richtet sich der Blick auf Migrationssysteme und deren Akteure: sogenannte Schlepper und Menschenhändler. Sie werden zu Verursachern umgedeutet, wo sie lediglich Nutznießer der vermeintlichen Illegalität von Migration sind. Ihre ›Geschäftsgrundlage‹ sind Gewaltkonflikte, Unterdrückung und lebensbedrohende Armut, ihr ›Geschäftszweig‹ ist das Überwinden von Mauern, Zäunen und Grenzen. Eine effektive Bekämpfung von Schleuserkriminalität läge darin, ihre Geschäftsgrundlage zu beseitigen – daran besteht bei den zentralen Akteuren der EU aber wenig Interesse.

Unabhängig davon, warum sich Menschen zur Migration entscheiden, ob aus Angst vor Verfolgung, Umweltzerstörungen oder um ihre Ansprüche an ein erfülltes Leben zu verwirklichen –, sie alle haben ein Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Deshalb geht es nicht allein darum, menschenverachtende Grenzregime anzugreifen und das Recht auf Migration und Asyl zu verteidigen. Im Zentrum linker Migrationspolitik muss die Beseitigung von Fluchtursachen stehen und die Herstellung gerechter globaler Verhältnisse. Deshalb muss sie auch und vor allem internationale und internationalistische Friedenspolitik sein.

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