Häufig scheint es, als seien Marxismus und Arbeiterbewegung immer schon identisch gewesen. Dabei war dies eher eine Verbindung auf Zeit, und rückblickend ist es verblüffend, dass eine wissenschaftliche Doktrin für mehrere Jahrzehnte die Grundlage breiter Massenbewegungen bilden konnte. Das haben sonst nur Religionen fertiggebracht. Ein Aufeinandertreffen von Bewegung und Wissenschaft verläuft meist so, dass Bruchstücke der Wissenschaft übernommen werden oder dass Teile der Bewegung – meist die formellen oder informellen Führungsschichten – diese rezipieren. Die Ausbreitung der Marx’schen Auffassungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie in den 1860er und 1870er Jahren hingegen war unmittelbares Moment eines Prozesses, in dem das Proletariat zu einer Klasse und damit zu einer selbstständigen politischen Kraft wurde (vgl. Demirović in diesem Heft).

Marx und Engels knüpften an die Positionen eines »kritischen Kommunismus« an, wie sie ihn im Bund der Kommunisten bereits um 1846/47 entwickelt hatten. Im Kern geht es dabei um ein antidogmatisches Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, um ein eigenes demokratisches Parteiverständnis und um einen globalen Anspruch – eine moderne Arbeiterbewegung war für sie nur als internationale Bewegung denkbar.

Mit der Niederlage der demokratischen Strömung in der Revolution 1848/49 kam auch die gerade entstehende kommunistische Arbeiterbewegung in Deutschland vorläufig zu ihrem Ende. Der Bund der Kommunisten wurde verboten und löste sich auf. Marx, Engels und viele andere Exponent*innen dieser Richtung gingen ins Exil, andere Kommunist*innen wurden zu Haftstrafen verurteilt. Im Zuge der Revolution hatte es eine erste Begegnung von deutscher Arbeiterbewegung und Marx’schen wissenschaftlichen Ansätzen gegeben. Franz Mehring (1960, 570f) schrieb beispielsweise in seiner Geschichte der Sozialdemokratie über die 1850er Jahre: »In Deutschland selbst lebte die kommunistische Propaganda im stummen Trotz einzelner Arbeiter fort und in den glühenden Hoffnungen Ferdinand Lassalles.«

Lassalle – organischer Intellektueller der jungen Sozialdemokratie

Ferdinand Lassalle war – obwohl Marx sich dafür ausgesprochen hatte – nicht in den Bund der Kommunisten aufgenommen worden. Er war in dieser Zeit aber einer der entscheidenden Kontakte von Marx und Engels in Deutschland. Die Herausforderung angesichts der damals düsteren Situation charakterisierte Lassalle (1854, 104) folgendermaßen:

»Doch glaube ich, dass man jetzt eines tun kann, was ich nicht für gering halte. Man kann eine mehr oder weniger große Zahl Proletarier theoretisch bilden und […] dem Proletariat […] Vertrauensmänner und geistige Mittelpunkte für künftige Bewegungen erzeugen, welche dann verhindern, dass sich das Proletariat nochmals zum Chorus für die bürgerlichen Helden hergibt.«

Die Marx’schen Auffassungen waren für ihn dabei ein wesentlicher Bezugspunkt.

Einige der wenigen Orte, an denen eine solche theoretische Bildung der Arbeiter*innen ansatzweise realisiert wurde, waren in den 1860er Jahren die bürgerlichen Arbeiterbildungsvereine, eng verbunden mit der bürgerlich-liberalen Fortschrittspartei. Arbeiter*innen, Handwerker*innen und bürgerliche Intellektuelle, die in den 1840er Jahren mit kommunistischem Gedankengut in Kontakt gekommen waren, fanden hier einen Ort des Austausches. Die dabei praktizierte Verbindung naturwissenschaftlich-technischer und kultureller Weiterbildung mit der Diskussion politischer Fragen öffnete den Weg für eine Neubelebung des »kritischen Kommunismus« Marx’scher Prägung. Die »Radikalen« in den Leipziger Bildungsvereinen und Ferdinand Lassalle griffen mit der Forderung nach einer selbstständigen Arbeiterpartei eine der wichtigsten kommunistischen Forderungen aus den Revolutionsjahren um 1848 auf. 1863 setzte Lassalle diese mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) in die Tat um. Dieser verstand sich ausdrücklich als Partei der Arbeiter*innen und in der damals weit verbreiteten Schrift »Arbeiterprogramm« von 1862 heißt es:

»Die sittliche Idee des Arbeiterstandes […] ist die, dass die ungehinderte und freie Betätigung der individuellen Kräfte durch das Individuum noch nicht ausreiche, sondern dass zu ihr in einem sittlich geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müsse: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und die Gegenseitigkeit der Entwicklung.« (Lassalle 1862, 183)

Die liberal okkupierte und damit beschränkte Idee der Freiheit wurde kommunistisch inspiriert und mit der Idee von Gemeinschaftlichkeit und Solidarität verbunden. Mit solchen Worten gab Lassalle den Arbeiter*innen Selbstbewusstsein für ihre Rolle in der Geschichte und in den täglichen Auseinandersetzungen.

Am Anfang der Historie der deutschen Sozialdemokratie als Partei stand also nicht Marx und nicht der Marxismus, sondern eigentlich Lassalle. Marx war in der deutschen Arbeiterbewegung praktisch noch unbekannt. August Bebel bemerkte dazu in einem Brief an Friedrich Engels noch 1873:

»Sie dürfen nicht vergessen, dass die Lassall ’schen Schriften […] durch ihre populäre Sprache die Grundlage der sozialistischen Anschauungen der Massen bilden. Sie sind zehnfach, zwanzigfach mehr wie irgendeine andere sozialistische Schrift in Deutschland verbreitet« (586).

Wie kam es dann aber, dass nach 1875 innerhalb weniger Jahre die Marx’schen Auffassungen dermaßen starken Einfluss gewannen und wenigstens offiziell in der deutschen Sozialdemokratie die herrschenden wurden?

Aufstieg des »kritischen Kommunismus«

Lassalle war es gelungen, wichtige Akzente in der jungen sozialdemokratischen Bewegung zu setzen, wie beispielsweise die politische und organisatorische Loslösung der Arbeiter*innen von der bürgerlich-liberalen Fortschrittspartei. Rosa Luxemburg (1902, 150) sah ihn in wichtigen Phasen seines Lebens in »Übereinstimmung« und in »politisch geistigem Zusammenhang« mit der Richtung von Marx. Und auch in Auseinandersetzung mit dem Sozialreformer Hermann Schulze-Delitzsch bekämpfte er, teils offen, teils verdeckt an Marx anknüpfend, den von Ersterem vertretenen kleinbürgerlichen Genossenschaftsgedanken gerade wegen seines ökonomisch kapitalismusapologetischen Gehaltes. In Übereinstimmung mit Marx orientierte er stattdessen auf die Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln: »Was also der Sozialismus will, ist nicht das Eigenthum aufheben, sondern im Gegentheil individuelles Eigenthum, auf die Arbeit gegründetes Eigen-thum erst einführen!« (Lassalle 1864, 216) Dazu im Widerspruch stand jedoch einerseits, dass er die vom autoritären preußischen Staat unterstützten Produktivgenossenschaften als Mittel zum genannten Zweck ansah, und andererseits sein eigenes Handeln als Parteiführer, welches Robert Michels (1925, 50) folgendermaßen beschrieb: Lassalle sei dafür eingetreten, »dass die tatsächlich bestehende persönliche Diktatur in dem von ihm präsidierten Verein auch als theoretisch gerechtfertigt und praktisch unerlässlich erklärt werde«. Zwischen den Auffassungen von Lassalle und der durch ihn selbst wesentlich initiierten deutschen Sozialdemokratie tat sich nach seinem Tode 1864 und vor allem in den 1870er Jahren eine zunehmende Kluft auf. Es war der Marx’sche »kritische Kommunismus«, der diese Lücke füllte.

Mit Wilhelm Liebknecht, August Bebel und anderen war in den 1860er Jahren eine neue Generation in das politische Leben eingetreten, die unter neuen Bedingungen einen ähnlichen Weg ging wie Marx zwei Jahrzehnte zuvor: von der revolutionären Demokratie zum Kommunismus. Diese Akteure kamen aber nicht von der Wissenschaft oder vom Journalismus her, sondern aus der Praxis der Arbeiter*innen. Ihre Stellung als proletarisierte Handwerker*innen, die in den bürgerlichen Bildungsvereinen und durch eigene Lebensrealität mit anderen proletarischen Schichten in engstem Kontakt standen, befähigte sie, über Lassalle hinauszugehen und die radikaleren Marx’schen Positionen in die Logik einer proletarischen Massenbewegung einzubringen. Die Erfahrungen mit einem Bürgertum, das sich dem reaktionären deutschen Staatswesen stets unterwarf, und die Erfahrung mit ebendiesem Staat forderten sie dazu heraus, die Grenzen sozialreformerischer Konzepte zu überschreiten und eine grundlegende Kritik der Gesellschaft zu formulieren. Dieser Weg entsprach der Marx’schen Vorstellung: Die qualifiziertesten, am engsten mit den modernen Produktivkräften verbundenen Proletarier*innen würden die revolutionäre Klasse bilden. Der gerade 23-jährige Julius Vahlteich, ein Schuhmacher, erklärte aus Anlass des einjährigen Bestehens eines der Vereine: »[…] daß in dem heranwachsenden Geschlechte der eigentlich gewerbetreibenden Classen ein Verständnis der Lebensaufgabe, ein Bewusstsein der eigenen Berechtigung, ein Gefühl der Selbstständigkeit und überhaupt eine freie geistige Entfaltung leben und weben, wie sie in noch gar nicht lange entschwundenen Zeiten wohl vergeblich – selbst in manchen ›höheren‹ Ständen – gesucht worden wäre« (zit. n. Schröder 2010, 60).

Die eigene Organisation musste diesem Selbstbild einer sich auf demokratische Weise emanzipierenden Klasse entsprechen. In seinem Referat zu Programm und Organisation der neuen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hob August Bebel (1869, 53) hervor: »Es gibt demnach in unserer Parteiorganisation keinen Führer mehr, und das ist notwendig; sobald eine Partei bestimmte Personen als Autorität anerkennt, verlässt sie den Boden der Demokratie; denn der Autoritätsglaube, der blinde Gehorsam, der Personenkultus ist an sich undemokratisch. Deswegen wollen wir statt einer Person fünf Personen an die Spitze setzen.« Er forderte ein Programm, das nicht nur sozialistisch, sondern auch demokratisch sein müsse. Die 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation, auch Erste Internationale genannt, hatte diese Idee bereits in ihrem von Marx formulierten Gründungsdokument hervorgehoben – die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter sein (Marx 1864; vgl. außerdem Brie, Musto und Neuhaus in diesem Heft). Der zweite zentrale Gedanke war das Prinzip der internationalen Solidarität. Nur als internationaler Akteur können die Arbeiter*innen im Kampf um die menschliche Emanzipation bestehen. Als Klasse seien sie der Emanzipation im globalen Maßstab verpflichtet. Auch das entsprach der Erfahrung vor allem der proletarisierten Handwerker*innen, die oft noch ihre »Wanderzeit« in verschiedenen europäischen Ländern durchgemacht hatten.

Marx’ Ideen waren also durch den Filter Lassalle in der jungen Sozialdemokratie bereits bekannt, wenn auch nicht unbedingt mit seinem Namen verbunden. In ihrer Originalform waren seine Auffassungen aber radikaler, sie bedeuteten die Absage an die bürgerliche Gesellschaft überhaupt und vermittelten eine Legitimation des Kampfes für die eigenen Interessen jenseits des »bürgerlichen Rechtshorizonts«. Es war gerade dieser revolutionäre Geist, der den Marx’schen Anschauungen in der deutschen Sozialdemokratie der 1870er und 1880er Jahre zum Durchbruch verhalf. Marx und die deutsche Arbeiterbewegung näherten sich in dem Maße an, in dem die Bewegung an Selbstbewusstsein gewann und Marx zugleich die Erfahrungen der wirklichen Bewegung in seine Theorie aufnahm.

Spannungen zwischen Theorie und Bewegung

Dieses wechselseitige Sich-aufeinander-zu-Bewegen von realer Arbeiterbewegung und Marx’schem Forschungsprozess setzte auch die Theorie unter Spannung. Marx und Engels kritisierten alle Strömungen, die aus ihrer Sicht die Eigenständigkeit der proletarischen Bewegung infrage stellten. In den Polemiken mit Lassalle, Proudhon oder Bakunin finden wir immer wieder eine Tendenz, Momente von Übergängen, reformerischen Ansätzen und Unsicherheiten gering zu schätzen gegenüber einer eher theoretischen Begründung der Notwendigkeit eines Sturzes der Kapitalherrschaft. Marx ging es um Klarheit und Abgrenzung gegenüber der Bourgeoisie und vor allem dem Kleinbürgertum. Obwohl er die Notwendigkeit von Bündnissen kannte und sich des destruktiven Potenzials revolutionärer Umwälzungen bewusst war, widmete er den damit verbundenen Fragen weniger Aufmerksamkeit. Der Dichter Heinrich Heine, revolutionärer Demokrat und enger Freund von Marx, der den kommunistischen Ideen zugeneigt war, schrieb 1855:

»Dieses Geständnis, daß den Kommunisten die Zukunft gehört, machte ich im Tone der größten Angst und Besorgnis […] In der Tat, nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit, wo jene dunklen Bilderstürmer zur Herrschaft gelangen werden […] Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt ebendieser Kommunismus, so feindlich es allen meinen Interessen und Neigungen ist, auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann […].«

Er fühle sich in seinem Hass auf den Nationalismus mit den Kommunisten verbunden, die dem »absolutesten Kosmopolitismus, einer allgemeinen Völkerliebe, einer auf Gleichheit beruhenden Verbrüderung aller Menschen, freier Bürger dieses Erdballs« verpflichtet seien (246). Zugleich warnte er vor den de-struktiven Seiten einer revolutionären Bewegung, die vor allem die radikale Negation ins Zentrum rückt. Heine erfasste die tatsächliche Dialektik von Reform und Revolution in den praktischen Konsequenzen klarer als Marx. Die Vermittlung beider und die dabei auftretenden Widersprüche wurden erst später, vor allem von Rosa Luxemburg in einer Polemik mit Eduard Bernstein, bearbeitet.

Die Tendenz, das historische Moment zu betonen, welches den Arbeiter*innen Zuversicht gab, bildete gleichzeitig das Einfallstor für Marx-Deutungen, die von einem quasi mechanischen Fortschritt der sozialdemokratischen Bewegung ausgingen und damit dem orthodox werdenden Marxismus den revolutionären Geist nahmen. Dies betrifft die Kanonisierung, insbesondere von Karl Kautsky, sowie die Institutionalisierung der deutschen Arbeiterbewegung und ihre partielle Integration in das Wilhelminische Kaiserreich. Die deutsche Arbeiterbewegung zerfiel Ende des 19. Jahrhunderts in zwei Teile – in den Apparat (Partei und Parlamentsfraktion) und in die Mitgliedschaft, für die jeweils unterschiedliche Marxismen bedeutungsvoll waren. Entwickelt wurde der Marxismus nur noch im Apparat und nach dessen Bedürfnissen. Die zeitweilige Identität von Arbeiterbewegung und Marxismus wurde brüchig.

Jede Annäherung von realer Bewegung und theoretischer Reflexion schließt auch die Möglichkeit der Entfremdung ein. Eine sich emanzipatorisch verstehende Theorie und die darauf beruhenden politischen Konzepte müssen sich also gemeinsam mit der Klasse und ihren realen Bewegungen, nicht aber neben ihr entwickeln. Sie müssen in den Widersprüchen stehen, diese reflektieren und zu ihrer emanzipatorischen Entwicklung beitragen. Das ist eine bleibende Herausforderung.